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Veranstaltungsbericht zur Berichtsübersicht
02.02.2014
Wieviel Prävention braucht der Mensch? Tagung des Ausbildungsinstuts Meilen in Zürich vom 29.-30.11.2013

Gabriella Selva, Zürich:

Wie viel Prävention braucht der Mensch?
Und was sind die Risiken und Nebenwirkungen von Prävention?

Diese provokative Frage stellte das Team des Meilener Institutes  in Zürich in seiner Tagung vom 29. und 30. November 2013. Provoziert fühlten sich weniger Menschen als erhofft, vielleicht weil der Titel auf den ersten Blick die handfesten Praktiker und Praktikerinnen nicht unmittelbar abholen konnte. Zu Unrecht aber. Was zu hören war, hat erstens tatsächlich provoziert (und das ist bereits ein schöner Befund) und hat zweitens den Blick - auch für psychotherapeutische PraktikerInnen -  erweitert auf das, was im Vorfeld passiert oder passieren kann oder nicht passieren soll, bevor Psychotherapie zum Zuge kommt oder kommen muss.

Prävention ist Arroganz. Dies ist ungefähr die spitze Eingangsbehauptung  von Bruno Hildenbrand (Universität Jena). Diese Art von Prävention schließt von Problemen in der Gegenwart auf eine problematische Entwicklung in der Zukunft. Sie postuliert in ihrer konsequenten Anwendung den abweichungsfreien Menschen. Und beansprucht damit das Wissen um den richtigen Weg. Denn, sinngemäß: Ratschläge sind auch Schläge. Woher nehmen wir das Recht, Menschen den einen Weg ins Glück vorzuschreiben und an ihrer Tür zu erscheinen, um ihnen zu sagen, was sie besser zu machen haben?

Keine gemütliche Ausgangsposition für Manfred Cierpka (Universität Heidelberg), der die Position vertritt, dass Vorsorge besser ist als Nachsorge. Im Bereich von mittelgradig belasteten Familien mit Säuglingen kann er zeigen, wie Prävention in Form von Besuchen einer Hebamme vor Ort die elterliche Kompetenz stärken und damit  positive Entwicklungen im Frühstadium der Eltern-Kind-Beziehung anbahnen kann. Weiter kann er zeigen, dass in städtischen Gebieten wie Heidelberg geradezu einem Bedürfnis  nachgekommen wird, meldet sich doch ein Grossteil der Klienten selber für das Präventionsprogramm an. Ist das Arroganz? Aber was ist mit den hochbelasteten Familien?

Mit hochbelasteten Familien ist eine Studie im Kanton Zürich befasst, die von Andrea Lanfranchi (Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik in Zürich) geleitet wird. In Zusammenarbeit mit  den Kleinkindberatungsstellen vor Ort werden Risikofamilien bis vier Mal monatlich besucht und die Eltern zu Gruppenangeboten motiviert. Erste Resultate weisen in die gewünschte Richtung. Ist das Arroganz? Oder ist es der Ton, der die Musik macht?

Wie Prävention im Frühbereich aus der Sicht einer betroffenen Mutter und eines betroffenen Helfersystems aussieht, haben Renate Gutmann und Brigitte Müller (Fachhochschule Nordwestschweiz, Hochschule für Soziale Arbeit Basel) gezeigt. Und diesseits von Mittelwerten und Abstraktionen trifft es einen als Hörerin hart: Hier das Baby, das nach seiner Geburt einen Entzug durchmachen muss und dort eine Mutter, die sich nicht gehört fühlt von ihrem Helfersystem. Wir erfahren dann, dass diese Mutter, weiterhin im Methadonprogramm, inzwischen drei Kinder hat - und dass das gut geht. Hier haben also offenbar viele Menschen in einem gemeinsamen Lernprozess vieles richtig gemacht - wir erfuhren aus Interviews, wie.

Michael Winkler (Universität Jena)  fragt, wie Menschen denn leben wollen. Und gibt die Antwort gleich selber: sie wollen in Freiheit leben. Ein freies Individuum ist aber ein Risiko für seine Gesellschaft. Zuweilen flächendeckend, wie die allgegenwärtige Videoüberwachung in England zeigt. Wir brauchen aber eine Prävention, die sowohl Kooperation  als auch Autonomie ermöglicht. Schlechte Prävention verhindert beides. Konkret: wenn die Hauskatze  den ehelichen Vollzug nicht goutiert, kann man entweder auf diesen verzichten oder die Katze vorübergehend aus dem Zimmer sperren.

Peter Rüesch (Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften) provoziert mit dem Begriff des "healthism", der die Gesundheit zur Bürgerpflicht erhebt und damit Krankheit und Behinderung als Normverletzung ansieht und Lebenskrisen pathologisiert. Anschaulich gemacht wird dies an der Entwicklung des DSM IV zum DSM V, in dem beispielsweise eine (normale) Trauer nach Tod und Verlust rasch zu einer Depression und damit behandlungsbedürftig wird. Damit werde nicht nur die Fähigkeit zur Selbstregulation und zur Selbstheilung unterminiert, sondern auch die Verwendung der Ressourcen des Gesundheitssystems zuungunsten der Schwerkranken verschoben.

Eine frische Schlussnote am ersten Tag liefert Albert Wettstein (ehemaliger Zürcher Stadtarzt, AG Best Practice Prävention im Alter), der aufzeigt, dass es den Zürcher Senioren und Seniorinnen verhältnismäßig gut geht. Grund dafür ist einerseits eine Ressourcenverteilung, die dafür sorgt, dass Alter nicht mit Armut einhergeht und anderseits die Tatsache, dass ältere Menschen in Zürich entgegen eines möglicherweise herrschenden Klischées keineswegs generell einsam sind.

Miriam Rosenthal (Psychologin, Mediatorin in eigener Praxis) prägt den Begriff von gleichwürdiger Wirklichkeit, den sie anwendet bei trennungswilligen Paaren, um diese darin zu unterstützen, zu einem gemeinsamen Ja zu den Folgen ihrer Trennung zu kommen. Prävention fokussiert hier auf das Kind, das davon entlastet werden soll, sich für eine Partei entscheiden zu müssen - und mit seinem Entscheid die andere Partei implizit auszuschließen.

Samuel Rom (CEO Klinik Schützen Rheinfelden) ist Leiter einer Institution, die auf die Behandlung von Depression und Burn-Out spezialisiert ist. Er berichtet nicht von den Patienten, sondern von der Organisation des Klinikbetriebs inklusive Hotellerie. Wie ist der Arbeitsalltag von Personen aus Dutzenden von verschiedenen Berufen zu gestalten, damit er dem Ausbrennen entgegenwirkt? Anerkennung, Anerkennung, Anerkennung ist das Leitmotiv seines Vortrags. Ein wöchentliches Frühstück für alle Mitarbeiter (ersetzt manche Sitzung!) und regelmäßige Feiern sind Beispiele für gesundheitsförderliche "Rituale".

Gundula Barsch (Hochschule Merseburg) plädiert in ihrem Vortrag für eine Distanzierung vom binären Code von totaler Drogenabstinenz ( = gut) versus Sucht/ Abhängigkeit/ Krankheit ( = schlecht) und für eine Entwicklung hin zur Mündigkeit im Umgang mit Drogen. Drogen sind eine gesellschaftliche Wirklichkeit (und waren es immer schon). Gute Prävention wisse darum und unterstütze einen sozial verträglichen, selbstgesteuerten Konsum von Drogen ohne Stigmatisierung und Kriminalisierung. Ja, auch mit Crystal Meth.

Einen ganz anderen Akzent setzt Robert Arnkil (Universität Tampere, unabhängiger Berater). Er versetzt seine Klienten in einem Gedankenexperiment  in eine gute Zukunft und fragt sie, wie die Dinge sind, jetzt, wo sie gut sind, und lässt sich berichten, was wer gemacht hat, damit die Dinge gut geworden sind. Dieses Vorgehen schafft eine Atmosphäre von entspanntem Gespräch unter Gleichwertigen, die gemeinsam darüber reden, was sie zusammen geschafft haben. Das ergibt fast von selber ein Plan dessen, was zu geschehen hat, um in der vorgestellten Zukunft auf wirklich anzukommen.

Volkmar Aderhold (Arzt für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychotherapeutische Medizin, Hamburg) beschäftigt sich mit der Frage, was geschehen muss, damit aus einem Prodromalzustand eine Psychose entsteht – oder eben nicht. Er nennt diese Art von Prävention „Dialog über das Ungewisse“. Dennoch ist einiges auch gewiss. Negative Umweltfaktoren bahnen den Weg in die Psychose, die genetische Disposition ist nur der Boden dafür. Studien zeigen, dass in der Vorphase gewisse Substanzen tatsächlich die Wahrscheinlichkeit eines Ausbruchs einer Psychose senken können. Die wirksamste Substanz hierbei, und das wird die Pharmaindustrie nicht freuen, sind Omega-3-Fettsäuren. Erst im Nachhinein kann man dann sagen, ob diese Zeit ein „Prodromalstadium“ war.

Was haben wir nun gelernt und wie geht es weiter? Tom Levold (Institut für psychoanalytisch-systemische Praxis, Köln) fasst zum Schluss zusammen: Wie viel Prävention brauchen wir? Sicher ist so viel: wir brauchen eine Prävention mit Augenmaß. Wir brauchen eine Prävention, die sich nicht an Idealen orientiert, sondern an der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Wir brauchen eine Prävention als gesellschaftliche Institution, und vermutlich nicht als medizinische. (Das Ideal der absoluten Gesundheit in diesem Zusammenhang ist ungesund.) Wir brauchen eine Prävention, die keinen Selbstzweck verfolgt, sondern sich selber reflektiert und mit Wertedilemmata umgehen kann. Wir brauchen eine Prävention, die respektvoll umgeht mit der Würde des Empfängers und der Empfängerin und eine Sensibilität entwickelt für die Ressourcen, die Andersartigkeit und die Lebenskompetenz dieser Menschen. So gesehen wäre Prävention ein gegenseitiger Lernprozess.

Als basso continuo durch alle Vorträge hindurch war folgendes zu hören: allen Menschen, ob Seniorinnen in der Stadt Zürich, Jugendliche in urbanen Brennpunkten oder arbeitslose Fünfzigjährige in Finnland, scheint folgendes gemeinsam zu sein: es geht ihnen besser, wenn sie Freundschaften pflegen, Kontakt zu ihren Familien haben und im Austausch sind mit ihrer Umwelt. Das ist nicht neu. Dies aber schon: Und wenn sie Fischöl zu sich nehmen. Mindestens 800mg, besser noch 1200mg täglich!

Als psychotherapeutische Praktikerin trage ich die Erkenntnis nach Hause, dass ich es mit dem Gutmeinen nicht so ernst meinen darf. Ich war noch nie die Spenderin der letzten Wahrheit und der richtigen Lösung und werde es in Zukunft noch dezidierter nicht sein. Den Fokus auf vorhandene Kompetenzen zu richten und den Blick für die Originalität von Problemlösungen zu schärfen, ist jedenfalls menschlicher. Und unterhaltsamer.

Das Thema der nächsten Tagung des Ausbildungsinstitutes für Systemische Therapie und Beratung Meilen steht noch nicht fest. Folgendes ist aber sicher zu berücksichtigen: wir werden dem Aspekt der Diskussion besser Rechnung tragen, damit die Provokationen, die Standpunkte und Meinungen in einen Prozess kommen miteinander und einerseits Klärungen und Differenzierungen möglich werden, anderseits aber auch Gegensätze erst recht ins Licht gerückt werden, auf dass wir – hoffentlich lustvoll – etwas zu kauen haben.




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