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systemagazin-Adventskalender: "Von Klienten lernen"

Tom Levold: Der liebe Gott und die Übergangshäuser

Mitte der  80er Jahre, während meiner Zeit im Kinderschutz-Zentrum Köln, arbeitete ich gemeinsam mit einer Kollegin mit einer der sogenannten Multiproblemfamilien, die man auch Multi-Institutionen-Familien nennen kann, weil — in vielen Fällen über Generationen hinweg —alle möglichen Einrichtungen und sozialen Dienste zum festen Inventar der Familienumwelt gehören.
Dies war auch bei Familie Schmitz der Fall. Neben dem Kontakt zum Allgemeinen Sozialen Dienst pflegte die Familie, die meiner Erinnerung nach acht Kinder hatte, auch kontinuierliche Beziehungen zum Sozialamt und Wohnungsamt, zur Frühförderung, zu Sonderschulen und Hausaufgabenbetreuung, zu Schuldnerberatung und Jugendgerichtshilfe, Sozialpsychiatrischem Dienst und Rheinischer Landesklinik und und…
Die Schmitzens lebten in so genannten Übergangshäusern, allerdings hatte sich der Aspekt des Übergangs schon längst verflüchtigt, weil schon die Großeltern der Kinder übergangsweise dauerhaft bzw. dauerhaft übergangsweise hier lebten. Der Kinderschutzbund betrieb in dieser Siedlung damals noch einen Kindergarten, dessen resolute Leiterin auch schon die Eltern Schmitz, mittlerweile in den Vierzigern, als Kinder betreut hatte. Sie kannte daher alle Generationen der Familie und vermittelte auch den Kontakt zum Kinderschutz-Zentrum, da sie sich Sorgen um die Versorgung der Kinder machte.
Frau Schmitz war eine sehr kontaktfreudige, naiv-offene, meist kindlich-frohe Person, die mit der Erziehung in jeder Hinsicht völlig überfordert war, da sie emotional eher eine Geschwisterrolle einnahm, allerdings nicht unbedingt die der Ältesten. Sie ließ nicht nur alles laufen, ohne ihren Kindern irgendwelche Grenzen zu setzen, sondern war auch kaum in der Lage, für regelmäßige Mahlzeiten oder ausreichende Hygiene zu sorgen. Das Sozialhilfe-Geld wurde ausgegeben, sobald es zur Verfügung stand, was bedeutete, dass die Familie zur Monatshälfte zu hungern begann. Die größeren Jungen „besorgten“ dann etwas aus dem Supermarkt, die älteren Töchter fabrizierten daraus etwas zu Essen, buchstäblich alles aus der Hand in den Mund. Herr Schmitz war ein Schweiger, der sich in seine Schwerhörigkeit zurückzog und froh war, wenn er aus ihr nicht herausgeholt wurde. Wann immer es ging, suchte er das Weite, das sich in der Regel in einer der Nachbarwohnungen befand, wo er in Ruhe mit seinen Kumpeln ein Bier trinken und der häuslichen Unruhe entkommen konnte.
Dieses ohnehin prekäre Gleichgewicht geriet zusätzlich noch mehr aus den Fugen, wenn Frau Schmitz ihre Phasen von Euphorie oder Niedergeschlagenheit hatte. In den euphorischen Zeiten lieh sie sich Geld und ging mit ihren Kindern wahllos einkaufen, was die Notsituationen auf lange Sicht nur noch verschlimmerte. In den depressiven Abschnitten, die auch schon zu zwei Klinikaufenthalten geführt hatten, stand Frau Schmitz ihren Kindern nicht einmal mehr emotional zur Verfügung.
In einer solchen Konstellation begannen wir, mit der Familie zu arbeiten. Wir besuchten sie regelmäßig in ihrer notdürftig eingerichteten Wohnung — an einen Besuch der Familie im Kinderschutz-Zentrum war gar nicht zu denken. Schmitzens lebten quasi in einem Ghetto, durch Industrieansiedlungen äußerlich weitgehend abgetrennt von anderen Wohngebieten. Keines der Kinder war schon einmal in der Innenstadt gewesen, die Wahrnehmung der Außenwelt vollzog sich über das Fernsehgerät, das tagaus tagein eingeschaltet war. Alles spielte sich in einem sehr überschaubaren „Sozialraum“ ab, Ausflüge „in die Stadt“ erschienen eher unvorstellbar.
Wenn wir kamen, wurden wir immer von allen freudig begrüßt. Wir arbeiteten mit der ganzen Familie an Regeln für Tagesabläufe, Hausarbeiten und Gespräche (Küchenuhr für Redebeiträge!), malten mit der Familie ein Genogramm auf große Plakate, machten Skulpturen und Rollenspiele, visualisierten die Bedürfnisse der Kinder und Eltern usw. Das machte allen Beteiligten großen Spaß. Im Laufe der Zeit, immerhin arbeiteten wir bestimmt über ein Jahr mit wöchentlichen Terminen mit der Familie, stabilisierte sich die häusliche Situation und die Kinder kamen in der Schule besser zurecht. Wir waren genauso begeistert wie die Familie.
Der größte Wunsch von Frau Schmitz war allerdings, ein ganz anderes Leben zu führen als das, was sie von der Übergangssiedlung kannte. Mit kindlich leuchtenden Augen erklärte sie uns, dass sie wenigstens ein einziges Mal in ihrem Leben in einem Restaurant „so richtig“ Essen gehen wolle, „mit Vorhängen an den Fenstern und Kerzen auf dem Tisch und Dienern, wie bei Dallas“. Und einmal in einer richtigen Wohnung wohnen, unter Leuten, die keine „Asis“ seien. Das war für mich mehr als verständlich. Seit Jahren waren Schmitzens beim Wohnungsamt mit dem Antrag auf eine Sozialwohnung gemeldet, allerdings hatten sie ihr Anliegen weder wirklich aktiv verfolgt noch waren seitens des Wohnungsamtes Bemühungen zu registrieren, den Vorstellungen von Frau Schmitz entgegen zu kommen. Dennoch rührte mich dieser Wunsch zutiefst.
Nun traf es sich, dass ich den Leiter des Wohnungsamtes über einige gemeinsame Projekte ganz gut kannte. Und irgendwie hat es mich geritten. Rückblickend meine ich, dass da wohl verschiedene Dinge zusammenspielten. Einerseits mochte ich Frau Schmitz sehr und empfand das starke Bedürfnis, ihr und ihrer Familie etwas Gutes zu Tun und dem ständigen Mangel abzuhelfen. Gleichzeitig ärgerte mich auch, dass sozial isolierte und benachteiligte Familien so wenig Chancen hatten, sich gegenüber den Behörden zu artikulieren und durchzusetzen. Das setzte in mir den Robin-Hood-Stachel, aus dem "System" etwas für die Opfer des Systems herauszuschlagen. Und schließlich wollte ich wohl auch etwas Großartiges tun und ein bisschen den lieben Gott spielen.
Das war leider schrecklich einfach, denn nach ein paar Gesprächen hatten wir für Familie Schmitz eine demnächst bezugsfertige große Neubauwohnung organisiert, in die nach wenigen Monaten eingezogen werden konnte. Noch größere Begeisterung bei der Familie und ihren Therapeuten! Die Familientherapie war damit eigentlich beendet, denn alle Anstrengungen richteten sich nun auf den Umzug in eine neue Umgebung.
Eigentlich. Denn schon kurz nach dem Umzug wurden wir vom ASD benachrichtigt, dass Frau Schmitz bei einem Hausbesuch auf Ersuchen von Herrn Schmitz in einem katatonen Stupor aufgefunden worden sei und sich nun in der Psychiatrischen Klinik befinde. Die Familie befand sich in einem chaotischen Zustand, ohne Essen, ohne Tagesstruktur, alle Zeiger schienen wieder auf Null gedreht.
Bei unserem Besuch in der Klinik weinte Frau Schmitz ununterbrochen und beklagte den Verlust ihres Zuhause, der Übergangssiedlung, wo sie sich auskannte, wo sie die Nachbarn kannte, und vor allem: wo alle SIE kannten — und ihr nicht übel nahmen, so zu sein, wie sie war. Wie es dann weiter ging, ist eine andere Geschichte, um die es hier nicht geht.
 Was ich jedoch daraus ein für allemal gelernt habe: dass es sich nicht mit der Therapeutenrolle verträgt, den lieben Gott zu spielen.




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