Lothar Eder: Szenisches Verstehen
Es fällt mir da ein Patient ein, ein schon älterer, trauriger Mann, ursprünglich aus dem ehemaligen Jugoslawien kommend. Er kam wegen Ängsten zu mir, die ihn seit Jahren mitten in der Nacht überfielen und ihm die Luft nahmen, und wegen seiner langwährenden Niedergeschlagenheit. Der Beginn dieser Therapie, das Ganze ist schon ein paar Jahre her, war markant und einprägsam. Ich hatte dem Patienten einen Erstgesprächstermin gegeben, wie üblich versehen mit dem Hinweis, er möge doch bitte genau um die vereinbarte Zeit kommen und klingeln. So kam der Zeitpunkt des Termins, es war Winter, später Nachmittag und draußen war es bereits dunkel. Aber der Patient kam nicht. Ich begann mich zu ärgern. Dann kam der nächste Termin, es klingelte, eine Patientin kam herauf zu mir in den ersten Stock, und hinter ihr eben der ältere Mann, der die Stunde davor dran gewesen wäre. Ja, warum er denn nicht zur vereinbarten Zeit gekommen sei, fragte ich ihn. Er habe im Hof darauf gewartet, dass ich ihn hole, antwortete er. Das war fürwahr eine recht ungewöhnliche Antwort und ein ebensolches Verhalten, aber der Mann war so freundlich und weich und er wirkte so traurig, dass ich ihm einen weiteren Termin gab, versehen mit der Mahnung, diesmal aber zu klingeln. Ja, meinte er, das wolle er gerne tun, und bevor er ging, bedankte er sich überschwenglich. Es gibt in der psychoanalytischen Theorie der siebziger Jahre ein recht interessantes Konzept, das sich „szenisches Verstehen“ nennt, und das sich mit den Autoren Lorenzer und Argelander verbindet. Gemeint ist damit, so hat der Philosoph Wolfram Hogrebe es einmal sehr kurz und treffend ausgedrückt, „… dass im […] Gespräch zwischen Arzt und Patient das wechselseitige Verstehen von der situativen Einbettung, die durch die Äußerungen des Patienten bereitgestellt wird, nicht abgetrennt werden kann“ (2009, S. 53-54). Zwar haben Systemiker meist nicht eben freundliche Affekte, wenn es um psychoanalytische Konzepte geht. Aber ich meine, dass hier schon eine große Parallele zu einem kontext- und lebensgeschichtlich orientierten, zudem zu einem interaktiven Verständnis von Problemen und Problemgeschichten anklingt. Gemeint ist mit szenischem Verstehen auch, dass ein Patient unbewußt seine aus prägnanten Erfahrungen stammenden szenischen Muster in die therapeutische Situation mitbringt; diese rühren aus seiner Lebensgeschichte her und Therapeut und Patient müssen in der gemeinsamen Arbeit erst ein Verständnis dafür entwickeln. Eben dies ist in meiner Geschichte während der Therapie nicht geschehen. Im Gegenteil: ich habe nicht verstanden, warum der Patient sich in jeder Sitzung so froh und dankbar über die Therapie äußerte, obwohl doch noch gar nicht viel geschehen war und der Prozess zudem nach einigen Sitzungen abbrach, weil er nicht mehr kam, angeblich, weil er keine Zeit mehr hatte. „Auf Wiedersehen Herr Doktor und danke für die gute Therapie“ sagte er am Ende jeder Stunde. Erst im Nachhinein ist mir klar geworden, was da eigentlich geschehen war (zumindest ist das meine Geschichte der Geschichte). Der Mann kam also ein paar Mal zu Gesprächen und er sprach viel über seine Kindheitserlebnisse (was Systemiker in der Regel genauso wenig schätzen wie Psychoanalyse). Sein Vater hatte seine Mutter früh verlassen und er hatte keinen Kontakt zu ihm. Der Junge liebte die Mutter über alles, sie war sein wichtigster Halt im Leben, und auch als alter Mann sprach er über sie mit einer großen Liebe. Als er 8 Jahre alt war, lernte die Mutter einen Mann kennen und die beiden wurden ein Paar. Der Mann allerdings ging die Verbindung mit ihr nur unter der Bedingung ein, dass sie sich vom Sohn trennte. Die Mutter liebte den Mann so sehr (oder aber sie war in irgendeiner Weise so bedürftig oder abhängig), dass sie einwilligte. Der Sohn blieb bei den Großeltern und sein Kummer war genauso groß wie die Sehnsucht nach der Mutter. Diese konnte ihn nur heimlich sehen und nur dann, wenn der Mann unterwegs war. Dann, so beschrieb er es, ging er zu dem Haus der Mutter und wartete im Hof, bis sie kam. Hinein ins Haus durfte er nicht, aber er konnte die Mutter sehen und sie steckte ihm etwas zu essen zu. Er hat dieses Geschehen nie verwunden (wie auch!) und als junger Mann ging er auf Wanderschaft in die Welt, lebte mal in München, heiratete dann später in Mannheim, wo er lebt und arbeitet. Aber einen Ort in der Welt fand er nie mehr. Eine Zeitlang sei seine Angst so groß gewesen, dass er in den nächsten Zug gestiegen und dann an irgendeinem Ort verwirrt aufgegriffen und nach Hause gebracht worden sei. Aber in welches „nach Hause“, möchte man fragen? Dort, in dem Haus, wo er mit seiner Frau lebte, überfiel ihn Nacht für Nacht eine Beklemmung, die er durch Fortlaufen zu lösen versuchte. So kam er zu mir. Nach einigen Gesprächen bekam er besser Luft und sein Herz war in der Nacht ruhiger. Im Rückblick meine ich zumindest zu verstehen, was da eigentlich geschehen ist; welche Ursprungsszene der Mann gewissermaßen aus dem Hof vor meiner Praxis mit nach oben brachte und sie im therapeutischen Kontakt „umschrieb“ oder vielleicht besser: „umgestaltete“. Nun war das eine Situation, in der er zunächst – so entsprach es ja seinem „Drehbuch“ – „wie gewohnt“ im Hof wartete, bis er geholt würde. Mit dieser Geschichte im Gepäck, wie dieser Patient sie hatte – und man kann annehmen, dass diese Geschichte sich in Erwartung eines therapeutischen Gespräches irgendwie aktualisiert – klingelt man nicht einfach und geht nach oben, sondern man wartet, bis man geholt wird. Hineingehen zu „dürfen“, von einem Mann empfangen zu werden, der (so denke ich zumindest) einigermaßen freundlich mit einem umgeht, und bei dem man seine Geschichte erzählen darf, wo man „sein“ darf, ist vielleicht eine im positiven Sinne verstörende Erfahrung und geeignet, eine kleine Korrektur in der Biografie und der Beziehungserfahrung herzustellen. Wenn diese Erfahrung sich wiederholt und sich als stabil herausstellt (der Patient durfte natürlich zu jeder vereinbarten Stunde klingeln, nach oben kommen und wurde freundlich empfangen), ist gewissermaßen sichergestellt, dass die Welt auch anders sein kann, als es sich in der vormaligen Erfahrung abgespeichert hat. Demnach wäre dies der „verborgene Sinn“ der Therapie gewesen, und ein paar Gespräche hätten ausgereicht, um dieses Korrektur zu bewirken. Wer könnte schon sagen, ob es „wirklich“ so war? Es ist zumindest meine Geschichte von dieser Therapie und sie fällt mir immer im Zusammenhang mit dem „szenischen Verstehen“ ein. Und irgendwie ist es auch eine Weihnachtsgeschichte. Zwar glaube ich nicht, dass der Mann in diesem Leben sich in dieser Welt noch einmal richtig beheimatet. Ein wenig aber ist dies eine Geschichte vom heimatlosen Umherirren auf der Suche nach einer Zuflucht. Und es ist vielleicht eine Geschichte darüber, wie jemand eine Ahnung davon entwickelt, dass das Leben nicht bedeutet, dass man immer im Hof stehen und warten muss, sondern dass man ins Haus kommen und dort sein darf.
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