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systemagazin-Adventskalender: "Von Klienten lernen"

Kurt Ludewig: Gesund oder krank – für wen?

Von den vielen Menschen, die mir — ob als Klienten oder Patienten — ermöglicht haben, zu staunen und dabei etwas zu lernen, möchte ich über einen Unvergesslichen berichten.
Ein 16-jähriger Jugendlicher wurde infolge von unzähligen Diebstählen auf unsere jugendpsychiatrische Station aufgenommen. Er war schwer körperlich behindert – neben einer angeborenen Gehstörung war er blind auf einem Auge und trug die Folgen eines misslungenen Geburtsvorgangs. In seiner Verzweiflung hatte er in der Praxis seines Orthopäden mit einem Skalpell versucht, sich den Hals abzuschneiden. Dabei schnitt er sich Teile der Stimmbänder durch, so dass zu seinen Behinderungen eine irreversible Sprachstörung hinzukam. Er überlebte und begann, überall zu stehlen, bis er erwischt und in die Psychiatrie gebracht wurde.
Aus seiner Biografie erfuhren wir u.a., dass er mit 10 Jahren Zeuge des Selbstmords seiner Mutter wurde, als sie vom 10. Stock eines Hochhauses gesprungen war. Seitdem lebte er bei seinem Vater. Das ging gut, bis dieser erneut heiratete. Symptomatisch zeigt der Jugendliche zum Zeitpunkt der Aufnahme das vollständige Bild einer manischen Störung. Nach einigen Wochen hatte er sich so weit stabilisiert, dass wir ihn beim Arbeitsamt vorstellten. Dort zeigte er sich derart gestört, dass er als unvermittelbar in die Klinik zurückgeschickt wurde. Weitere Monate vergingen, in denen er einen schweren depressiven Zustand durchlebte.
Als ich, der sein Therapeut war, aus meinem Urlaub zurückkehrte, fand ich ihn in einer Ecke auf dem Boden kauernd. Er wirkte extrem apathisch, reagierte nicht auf Ansprache, nahm keine Nahrung zu sich. Ich setzte mich zu ihm auf den Boden, und wir begannen eine sehr intensive Phase der Psychotherapie, die zu einer engen Bindung führte. Im Verlauf weiterer Monate erholte er sich zusehends, so sehr, dass wir ihn wieder beim Arbeitsamt vorstellen konnten. Diesmal bestand er souverän eine Prüfung vor einer Kommission aus Berufsberatern, Psychologen und Psychiatern des Amtes. Sie waren derart von der Veränderung des Jugendlichen beeindruckt, dass sie uns persönlich anriefen, um uns zu gratulieren. Also begannen wir mit den Vorbereitungen auf die Entlassung. Er sollte in ein neues vorbildliches Heim im Westen Deutschlands verlegt werden.
Als er das erfuhr, fing er wieder an zu stehlen, wirkte wieder ungesteuert, verwirrt. Wir deuteten dies als Versuch, die Entlassung zu umgehen, und wir ließen uns daher nicht von den anvisierten Maßnahmen abbringen. Er wurde zum neuen Heim von seiner Bezugsbetreuerin begleitet. Auf dem Weg dahin stahl er ihr die Schlüssel der Klinik. In den ersten Tagen im Heim klaute er wieder, was er nur finden konnte, mitunter einige Pelzmantel aus einem Geschäft in der Nähe. Als er schließlich das Auto des Heimleiters klaute und es in eine Straßengrube hinein fuhr, wurde er in das örtliche psychiatrische Landeskrankenhaus gebracht. Dort sollte er einige Jahre verbringen. Nach seiner Entlassung mit Ende Zwanzig schrieb er mir einen skurril verfassten Brief, in dem er mir mitteilte, dass er nun betreut wohne und sehr bedauere, dass er nicht für immer bei uns in der Klinik bleiben durfte. Er hätte sogar für uns gearbeitet.
Dieser zu den erstaunlichsten aus meiner beruflichen Laufbahn gehörende Verlauf relativierte dauerhaft mein Verständnis von sog. psychischer Krankheit und Genesung, zudem erweiterte er maßgeblich mein Verständnis von therapeutischer Beziehung. Vermutlich trug er auch wesentlich dazu bei, mich für die mich später erreichenden systemischen Gedanken empfänglich zu machen.




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