Sascha Kuhlmann: Nein, Du sollst nicht fragen!
Im Rahmen meiner Tätigkeit in einer Erziehungsberatungsstelle biete ich gemeinsam mit einer Kollegin regelmäßig eine Gruppe für Trennungs- und Scheidungskinder an. Das Mädchen, von dem ich gelernt habe, heißt Lisa, sie war 11 Jahre und nahm gemeinsam mit sechs weiteren Kindern an dieser Gruppe teil. Es gab zwölf wöchentliche Termine, daneben einen Elternabend und am Ende ein Auswertungsgespräch mit den Eltern und dem zuständigen Berater, der parallel die Elternberatung übernommen hat. Schnell wurde klar, dass jedes Kind im Rahmen der Trennungsgeschichte seiner Eltern wie üblich sein Päckchen zu tragen hatte. Bei Lisa sah dieses Päckchen so aus, dass sie seit zwei Jahren keinen Kontakt mehr zum Vater hatte. Dieser war vor zweieinhalb Jahren in eine andere Stadt gezogen und nach einem halben Jahr hatte er den Kontakt für Lisa ohne ersichtlichen Grund abgebrochen. Lisa litt augenscheinlich unter dieser Situation und beschrieb den fehlenden Kontakt als belastend. Die Mutter beschrieb in der parallelen Elternberatung die Situation für sich selbst als entspannt. Nach der Trennung war es aus ihrer Sicht zu sehr unschönen Situationen gekommen und letztlich war sie dem Vater ihrer gemeinsamen Tochter dankbar für den Kontaktabbruch, der für sie eindeutig Entspannung mit sich gebracht hatte. Das Leid ihrer Tochter beschrieb sie als punktuell auftretendes Phänomen. Die von der Mutter befürchtete und vorausgesagte Enttäuschung über misslungene Kontaktversuche sah sie aber als gravierender an, so dass sie ihre Tochter nicht in dem Versuch des Kontaktaufbaus unterstützen wollte. Der Vater hatte von uns im Vorfeld der Gruppe einen Brief bekommen, in dem wir sowohl die Gruppe und das Vorgehen kurz beschrieben hatten, als auch das Angebot eines Kontaktes bezüglich weiterer Fragen unterbreitet hatten. Daneben hatten wir zu dem Elternabend eingeladen. Auf diesen Brief reagierte er nicht, was wir als stilles Einverständnis werteten. Lisa schilderte weiterhin in der Gruppe ihre Situation und überlegte gemeinsam mit den anderen Kindern die Vor- und Nachteile des Kontaktes zu beiden Elternteilen. Sowohl Kinder mit regelmäßigem Kontakt, als auch Kinder mit unregelmäßigem Kontakt, wie auch Kinder ohne Kontakt zu beiden Elternteilen waren in der Gruppe vertreten. Zum Elternabend erschien nur Lisas Mutter, von dem Vater haben wir keine Nachricht erhalten. In der Gruppenstunde nach dem Elternabend berichteten wir, wie immer, von dem Elternabend, versicherten den Kindern nochmals, das wir die Schweigepflicht eingehalten hätten und wollten zum nächsten Thema übergehen. Die Kinder nutzten allerdings den Anlass, nochmals über das vorangegangene Thema (Kontakt zu beiden Elternteilen) zu sprechen und tauschten untereinander aus, ob es gut oder schlecht war, dass beide Elternteile am Elternabend teilgenommen haben oder auch nicht. Wir boten den Kindern an, dass wir als Berater Kontakt zu denjenigen Elternteilen aufnehmen könnten, die nicht am Elternabend teilgenommen haben und sie nochmals gesondert zu informieren, wenn es den Kindern wichtig sei. Zwei Kinder nahmen das Angebot an, einmal mit der Begründung, „Mama soll wissen, was ich hier mache“ und einmal mit der Begründung „Papa fragt mich immer, was wir hier machen und ich kann es nicht so gut erklären“. Lisa bezog klar Stellung und sagte: „Nein, du sollst nicht fragen warum er nicht da war und auch nichts erzählen!“ Eigentlich hatten wir geglaubt, dies sei eine gute Gelegenheit, Lisa eine Brücke zu bauen und sich in dieser Situation den anderen Kindern anzuschließen. Jedoch, Lisas Entscheidung stand unumstößlich fest. Auch im weiteren Verlauf der Gruppe nahm Lisa für uns erkennbar keine Idee auf, wie sie möglicherweise einen Kontakt zum ihrem Vater aufbauen könnte und auch Angebote unsererseits Kontakt zum Vater aufzunehmen lehnte sie kategorisch ab. So ging die Gruppe bezüglich dieses Punktes „für“ Lisa, an dieser Stelle etwas zu erreichen, vermeintlich wenig erfolgreich zu Ende, auch wenn Lisa am Ende der Gruppe erzählte, dass es ihr immer viel Spaß gemacht habe, zu kommen und auch die Mutter im Auswertungsgespräch dieses bestätigte. Einen Monat nach Beendigung der Gruppe erhielt ich einen Anruf von Lisas Vater. Dieser berichtete mir, dass er per Post eine Mappe zugeschickt bekommen habe, in der es um Lisas Erfahrungen in der Trennungs- und Scheidungskindergruppe ginge. Lisa habe einen äußerst kurzen Brief dazugelegt, in dem stand:
Hallo Papa, wenn du näheres wissen möchtest wende dich an Herrn Kuhlmann, die Telefonnummer findest du auf der vordersten Seite. Lisa
Ich vereinbarte mit Lisas Vater einen Termin in der Beratungsstelle, unter der Voraussetzung, dass Lisa damit einverstanden sei. Im anschließenden Telefonat mit Lisa schilderte sie mir, dass sie im Verlauf der Gruppe sehr mit sich gerungen hätte, ob sie selber oder wir Kontakt zum Vater aufnehmen sollten, sich aber immer wieder dagegen entschieden hätte, weil sie es ihrem Papa nicht so einfach machen wollte. Sie freue sich sehr, dass er sich bei mir gemeldet hatte und wollte sich nach dem Termin ihres Vaters bei mir gern mit mir treffen, um möglicherweise zu überlegen, ob es auch zu einem Treffen zwischen ihrem Vater, ihr und mir kommen könnte. Auch dieser Termin kam zustande. Lisa konfrontierte mich also mit meiner eigenen Hilflosigkeit, einerseits ein unter der Situation leidendes Kind zu sehen und andererseits keinen Auftrag zu erhalten, den Versuch zu starten, etwas daran zu verändern. Dieses Dilemma auszuhalten erlebe ich in verschiedenen Kontexten als große Herausforderung. Theoretisch habe ich zu diesem Dilemma eine klare Haltung: „Menschen sind nicht von außen instruierbar“, praktisch bringen mich Ratsuchende egal ob im Beratungsstellen-Setting oder im Supervisions-Setting immer wieder mal in die Situation helfen zu wollen und meine „gute“ Idee als den „richtigen“ Weg anzupreisen. Von Lisa habe ich einerseits gelernt, dass die schnellste nicht immer die beste Idee ist und vor allem, dass es sehr viel Sinn macht sich auf das Gespür der Klienten für den passenden Weg zu verlassen und den so gut es geht zu begleiten. Hierin sehe ich eine große Aufgabe für professionelle Begleiter egal in welchem Kontext und bin meinen Klienten immer wieder dankbar, wenn sie mich durch ihr Handeln daran erinnern, dass die Haltung „der Klient ist der Experte für sein Leben“ eine äußerst hilfreiche ist. Erst recht, wenn am Beispiel von Kindern, wie in diesem Falle Lisa, dieses Modell so eindrücklich erfahrbar wird.
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