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systemagazin-Adventskalender: "Von Klienten lernen"
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Rudolf Klein: Eine letzte Frage
Vor Jahren erschien eine ca. 40-jährige Frau. Der Anlass ihrer Kontaktaufnahme war der Tod ihres Mannes vor zwei Jahren. Dieser habe massiv getrunken, sei depressiv gewesen und habe sich mit einer Alkohol- und Medikamentenmischung nach 19 Ehejahren suizidiert. Seither sei sie ohne Antrieb, fühle sich traurig, depressiv und nehme regelmäßig vom Hausarzt verschriebene Antidepressiva. Die Last des Alltags drohe sie zu erdrücken und die Versorgung der 16-jährigen Tochter und des 18-jährigen Sohnes überfordere sie zunehmend mehr. Die Schuldgefühle, den Tod des Mannes nicht verhindert, seine offensichtliche Verzweiflung und seine ihm aussichtslos erscheinende Lage nicht erkannt zu haben, seien zu viel für sie. Dazu komme, dass sie seit Wochen kaum noch aus dem Bett komme und die Kinder sich selbst versorgen müssten. Der Sohn mache ihr von Zeit zu Zeit Vorwürfe, beschimpfe sie und sei in der Schule schlechter geworden. Das Leben erscheine ihr unendlich schwer. Zunächst vereinbarten wir regelmäßige Gespräche, die die Frau zuverlässig einhielt. Ihr Klagen über die Schwere ihres Lebens schien kein Ende zu nehmen. Geduldiges Zuhören half anscheinend, eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen. Im Laufe der Gespräche eröffnete sie mir dann, dass die Antriebslosigkeit und die Weigerung, morgens aufzustehen, neben den seelischen Belastungen auch mit ihrem Alkoholkonsum zusammenhänge. Wenn sie ehrlich sei, trinke sie bereits seit Jahren zu viel und inzwischen habe sich bereits eine Abhängigkeit eingestellt. Das abhängige Trinken ihres Mannes und seine Unberechenbarkeiten hätten sich früher schon besser mit Alkohol aushalten lassen. Und inzwischen sei der Alkohol vom gelegentlichen Besucher zum Dauergast geworden. Ihr Ziel kristallisierte sich nun deutlicher heraus: Sie wollte das Trinken beenden und prüfen, wie es ihr dann psychisch gehe. Dies sei für sie, aber auch für die Kinder besser. Und tatsächlich schaffte sie es, sich Schritt für Schritt vom Alkohol zu verabschieden, trank aber auf diesem Weg zwischendurch immer noch „ein bisselchen“ zu viel. Die Gespräche über ihre Herkunftsfamilie (der Vater galt als abhängiger Trinker) und die schwere Zeit mit ihrem Mann waren genauso Themen wie die Kraft, die ihr geholfen hatte, dies alles durchzustehen, die Erinnerung an die schönen Zeiten mit ihrem Mann und der Stolz über und die Freude mit den Kindern. Sie konnte sehen, dass der Alkohol ein Trost und ein Begleiter geworden war, der lange Zeit gute Dienste geleistet hatte und nun in angemessener Geschwindigkeit verabschiedet werden konnte. Diese sehr positive Entwicklung lief ohne größere depressive Einbrüche. Sie schien nach dem Tod des Mannes wieder an einem neuen Lebensabschnitt angedockt zu haben und verzichtete parallel und in Absprache mit ihrem Hausarzt auch auf die Medikamente. Insgesamt also ein sehr guter Therapieverlauf, den ich zu einem nicht geringen Teil meinem Einfühlungsvermögen, einer gelungenen emotionalen Rahmung, dem Verständnis für süchtige Dynamiken und nicht zuletzt den angemessen unterschiedsanstoßenden Methoden und Haltungen wie lösungsorientierendes und zirkuläres Fragen sowie meiner kompetenz- und ressourcenfokussierenden Haltung zuschrieb. Gegen Ende der Therapie führte ich mit ihr ein Bilanzgespräch. Sie bestätigte meine Einschätzung, was ihre eigene Entwicklung anging. Sie betonte auch, es sei gut und wichtig gewesen, die Gespräche genommen zu haben. Immerhin hätten die Termine vor allem anfangs einen gewissen Druck aufgebaut, aus dem Bett aufzustehen bzw. am Vorabend etwas weniger zu trinken. Ich fand mich vollkommen bestätigt: Der gesamte Therapieprozess und auch das Bilanzgespräch liefen optimal. Meine theoretischen Annahmen trafen zu und hatten einen bestechend erklärenden Charakter. Die davon abgeleiteten therapeutischen Methoden waren folgerichtig und zeigten entsprechende Wirkung. Es fehlte nur noch die abschließende Bestätigung durch die Klientin – eine Art Segnung meiner fachlichen Kompetenz. Nur noch eine letzte Frage. In freudiger Erwartung im Hinblick auf eine, mein therapeutisches Geschick bestätigende Antwort höre ich heute noch meine Stimme folgende letzte Frage aussprechen: „Was, glauben Sie, hat wohl den größten Einfluss auf ihre positive Entwicklung gehabt?“ Und sie antwortete ruhig, aufrichtig und mit einem gewissen Glanz in den Augen: „Ach, wissen Sie, auf meinem Nachttisch steht ein Radiowecker. Und da habe ich einen Sender eingestellt, der v.a. deutsche Schlager spielt und mit dessen Musik ich mich morgens wecken lasse. Und in diesem Sender wurde in meiner schwersten Zeit häufig, fast täglich morgens das Lied von Udo Jürgens gespielt: ‚Und immer, immer wieder geht die Sonne auf’. Und dieses Lied hat mir gesagt, dass es auch mit mir weitergehen und gut ausgehen wird. Dieses Lied hat mich aus meiner depressiven Stimmung herausgerissen und mich getröstet, wenn ich traurig war und wieder einmal zu viel getrunken hatte.“ Vielleicht sollte man auf letzte Fragen verzichten. |
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