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systemagazin-Adventskalender: "Von Klienten lernen"
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Stephan Baerwolff: Eine Kleinigkeit
Familie Weber meldete sich in unserer Beratungsstelle, da es Schwierigkeiten im Kindergarten mit dem 5-jährigen Sohn Peter gäbe. Die Familie war mir bereits bekannt, da ich sie vor Jahren im Zusammenhang mit Problemen ihrer (inzwischen erwachsenen) Tochter begleitet hatte. Diese hatte einige Zeit in einer Jugendwohnung gelebt, so dass die Familie Weber in ihrem Leben bereits mit vielen Institutionen (Sozialamt, Allgemeiner Sozialer Dienst usw.) Beziehungen (meist konflikthafter Art) unterhalten hatte. Auch jetzt stellte sich in einem ersten Gespräch mit den Eltern heraus, dass sich anlässlich Peters Verhalten im Kindertagesheim (KTH) ein Konflikt mit den dortigen Erzieherinnen um Peters Essverhalten entwickelt hatte. Während das KTH darin den Ausdruck eines familiären Problems sah, lokalisierten die Eltern die Ursache für Peters Schwierigkeiten im unangemessenen Verhalten der ErzieherInnen. Mir erschien es deswegen nützlich, ein zweites Gespräch im KTH unter Einbeziehung der Erzieherinnen vorzuschlagen. Alle erklärten sich einverstanden. Obwohl ich bereits seit vielen Jahren im Stadtteil Hamburg-Altona arbeite, stellte sich an dem Tag des Treffens heraus, dass ich die Verkehrssituation völlig unrealistisch eingeschätzt hatte: Da ich keinen Parkplatz fand, kam ich einige Minuten zu spät ins KTH, wo die Eltern und eine Erzieherin bereits gemeinsam warteten (was mir als Pünktlichkeit liebendem Menschen ziemlich unangenehm war). Das Gespräch selbst verlief wenig dramatisch. Immerhin gelang es in diesem Rahmen, dass beide Seiten ihre Sichtweise darstellten und so etwas mehr Verständnis füreinander entwickeln konnten. Auch konnte ein Kompromiss bezüglich der Essens-Regeln zuhause und im KTH gefunden werden. In einem weiteren Treffen in der Beratungsstelle, wieder mit den Eltern allein, bedankten sich diese fast überschwänglich für das Gespräch im KTH: Zu meiner Überraschung bezeichneten sie es als für sie am bedeutsamsten, dass ich erst später als sie ins KTH gekommen sei, wodurch sich ihre Befürchtung zerstreut hätte, ich könnte schon vorher mit den Erzieherinnen zusammen „kungeln“. Die Vorstellung, sie kämen ins KTH und sähen dort als erstes die Erzieherinnen und mich zusammen sitzen, hatte sie vorher äußerst beunruhigt. So aber seien sie von Anfang an guter Dinge gewesen und das Gespräch sei für sie auch gut gelaufen, so dass sie jetzt keinen weiteren Beratungsbedarf sähen. (In der Tat legten sich die Konflikte um Peters Essen in der Folgezeit). Überrascht war ich von diesen Aussagen vor allem, weil ich zum einen diesem nonverbalen Detail meines Verhaltens (wann erscheine ich) keine besondere Bedeutung beigemessen hatte (schon gar nicht es bewusst gestaltet hatte), zum anderen die Beziehung zwischen den Eltern und mir für so tragfähig gehalten hatte, dass mir ihre Befürchtung nicht in den Sinn gekommen war (trotz meines Wissens um ihre problemgeladenen Erfahrungen im Umgang mit Institutionen). Nun ließe sich diese kleine Episode sicherlich als geschickt geplante und deswegen erfolgreiche Intervention erzählen, um damit im Kontext strategischer Familientherapie Applaus zu ernten. Abgesehen davon, dass dies nicht der subjektiven Wahrheit entspräche (ich kam „absichtslos“ zu spät), wäre damit das Therapeutendilemma (das hier massiv deutlich wird) nur zum Schein umgangen: Denn so wenig ich vorhersehen konnte, welchem Teil meines Verhaltens die Eltern welche Bedeutung zuschreiben würden, so wenig wäre ich davor gefeit, dass andere, zukünftige KlientInnen eine etwa von mir bewusst geplante Unpünktlichkeit nicht als hilfreich, sondern z.B. als bloße Unhöflichkeit ansehen würden und/ oder stattdessen einen ganz anderen Teil meines Verhaltens für bedeutsam erachteten. Insofern bringt diese kleine Erzählung keine „Planungssicherheit“, sondern stellt nur eine (hoffentlich halbwegs unterhaltsame) Illustration des von Kurt Ludewig so präzise formulierten Therapeutendilemmas dar („Handle wirksam, ohne je im Voraus zu wissen, wie, und was dein Handeln auslösen wird!“). Dies zwingt uns Professionelle, wachsam zu sein und im Dialog mit den KundInnen zu bleiben, um etwas über die von ihnen vorgenommenen Bedeutungsgebungen zu erfahren. Gleichzeitig ist es vielleicht ein Grund dafür, dass ich meine Arbeit selbst nach 30 Jahren Berufstätigkeit immer noch spannend finde, weil ich dauernd Überraschungen erlebe. Demgegenüber erscheinen mir KollegInnen, die bereits vorher wissen, worum es in den Erzählungen der KlientInnen „eigentlich“ geht, auf die Dauer eher Gefahr zu laufen, an Langeweile auszubrennen, da sie immer nur die Eier zu finden, die sie selbst versteckt haben. Dieses Fokussieren auf „Muster“ und „Strukturen“ verschafft TherapeutInnen Sicherheit und Orientierung und ist damit vielleicht ein notwendiges Stadium der beruflichen Entwicklung. Wenn wir aber unser Interesse für die Menschen, die sich uns anvertrauen, wach halten wollen, scheint mir eine Haltung, wie sie Michael White in seinem letzten Buch („Landkarten der narrativen Therapie“) beschreibt, auf die Dauer interessanter: Dort vergleicht er das therapeutische Gespräch mit einer Reise, deren Zielort nicht vorherzusagen ist. Dies ist sicher manchmal beängstigend, aber diese Offenheit für Überraschungen hilft uns m. E., lebendig zu bleiben. Je mehr biographische Erzählungen ich im Laufe meines Berufslebens gehört habe, desto mehr bin ich von deren je einzigartigen „Gestalt“ fasziniert. Dieser Respekt gibt mir Kraft zum Umgang mit dem Besser-Wisser-Monster, das sich wohl nie ganz verabschieden wird und dessen Zähmung von daher nun wirklich keine Kleinigkeit ist!
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