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Rudolf Welter: Unterwegs, Teil 3
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Verschwundene Häuser und Städte
In der Medizin existiert der Begriff des Phantomschmerzes. Er bedeutet,
dass Menschen den Verlust einer Gliedmaße subjektiv als körperhaft
wahrnehmen, wobei eine bestimmte Lage der Gliedmaße nach deren Verlust
noch jahrelang als unverändert wahrgenommen werden kann. Das regt zur
Vermutung an, dass Menschen eine verlorene Behausung, mit der sie
jahrelang verwachsen waren, über lange Zeit als noch existierend
wahrnehmen.
So erging es zum Beispiel Franz Kummer. Er wanderte 1925 nach
Kanada aus, nachdem das Haus seiner Familie, in dem er aufgewachsen
war, abgerissen worden war: Das Haus wurde aus seiner Nachbarschaft
amputiert. Es ist durchaus möglich, dass die Nachbarschaft heute das
abgerissene Haus als noch existierend wahrnimmt, auch wenn auf dem
Grundstück jetzt ein anderes Haus steht.
Franz Kummer zog in Kanada in ein Haus ein, das seinem Familienhaus
nicht im Geringsten ähnlich war. Und was passierte: In Franz Kummers
Wahrnehmung existierte noch immer das amputierte Haus seiner Familie.
So verhielt er sich im neuen Haus den Räumlichkeiten des alten Hauses
entsprechend mit dem Resultat, dass er sich - besonders nachts - im
Haus verirrte, da und dort blindlings in Wände hinein lief, Türen auf
die falsche Seite zu öffnen versuchte oder an völlig falschen Orten mit
dem Treppen steigen begann.
Es war wie verhext: Auf seiner inneren Landkarte war immer noch
körperhaft das alte Haus vorhanden. Es war nicht auszuradieren, auch
als Kummer vom Notar seines Heimatortes sich hatte einen Katasterplan
schicken lassen, auf dem die neu umgestaltete Nachbarschaft
eingezeichnet war mit dem neuen Haus. Es nützte alles nichts. So ließ
er sein Haus in Kanada, von ihm nur als künstliches Glied wahrgenommen,
abbrechen und das Haus seiner Eltern aufgrund seiner Erinnerungen neu
entstehen. Aber es blieb dennoch bei einem künstlichen Glied, wie es so
ist nach der Amputation des Originals: Es ist nicht ganz vergleichbar
mit diesem. Damit zu Gehen ist steif, die Bewegungsfreiheit ist
eingeschränkt, da und dort löst das künstliche Glied Druck aus, obwohl
es nachts vom Körper abtrennbar ist. Und der Besitzer hängt noch immer
am Originalglied. Mit all dem hatte Franz Kummer nicht gerechnet.
Nicht nur Wohnhäuser und Bürogebäude verschwinden aus Ortsbildern,
sogar ganze Städte - lassen sich zwar noch auf Landkarten finden - sind
aber zu menschenleeren, verfallenen Niemandsstätten geworden. Ein
solcher Ort ist zum Beispiel Leadcity, im Staate Nevada. Früher wurde
dort Blei gefördert. Jetzt nicht mehr, weil die Nachfrage nach diesem
die Gesundheit gefährdenden Schwermetall stark zurückgegangen ist.
Man findet Leadcity nur, wenn man auf der dorthin führenden Landstrasse
einen der selten durchfahrenden Reisenden trifft, der sich in der
Gegend auskennt. Zum Beispiel einen Sheriff, der eine Kontrollfahrt
durch die weite, kahle Berglandschaft macht, um nach gestrandeten
Autofahrern Ausschau zu halten. Aber auch er weiß vielleicht nicht
genau, wo Leadcity liegt. Oben auf dem kahlen Berg muss sie zu finden
sein. Aufmerksam Reisende haben sie gefunden: Fördertürme stehen noch,
aufgestelzt aber bedrohlich schief. Verfallene Wohnhäuser sind um diese
herum gruppiert, mit durchlöcherten Dächern, verfaulten Fensterrahmen,
von Borkenkäfern geschwächten Balken der gestrickten Wände, von Rost
geschwächtem Geländer. Da ist noch Leben drin! Besucher müssen genau
hinsehen und hinhören: Borkenkäfer im Holz, Spinnen in Wandecken,
letzte Mäuse unter einst blühenden Gärten, Quallen in fast
ausgetrockneten, von Kindern einst benutzten Baggerteichen. Krähenvögel
kreisen erwartungsvoll über dem Ganzen und der saure Regen frisst
lautlos an Metall.
In den Köpfen von einigen Nachfahren der einst dort Wohnenden ist Leadcity noch vorhanden.
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