Copyright © 2013
levold system design Alle Rechte vorbehalten. |
|
|
Rudolf Welter: Lebensentwürfe, Teil 6
|
Knecht und Biographieforscher
F. arbeitete als Knecht auf einem kleinen
Bauernhof im Berner Seetal. Seine Mutter machte auf dem Hof den
Haushalt und half mit auf dem Feld, wenn zusätzliche Hände gebraucht
wurden.
Die Meisterleute beachteten F. kaum. Es schien, als ob sie F. als etwas
behindert wahrnahmen, was sein Denken und seine Eigenständigkeit
anbelangte. Auch die Mutter von F. schätzte die Fähigkeiten des F. zum
"Sich-Durchbringen und -Behaupten", wie sie sagt, nicht sehr hoch ein.
Meistens erledigte sie alles für F., traute ihm kaum etwas zu. Auf dem
Hof hingegen wurde er körperlich sehr stark gefordert.
Eines blieb für alle ein Geheimnis. F. gelang es, zu einer Photokamera
zu kommen. Nun ging er in freien Stunden, die Kamera in einem Rucksack
versteckt, über Land und in nahe liegende Dörfer. Er machte viele
Aufnahmen, die er dann nachts bei Kerzenlicht betrachtete. So schuf er
sich eine Welt in Bildern, baute Beziehungen zu Menschen ohne deren
Wissen auf, nahm ganze Landschaften in Besitz und streichelte auf den
Fotos Tiere, bis ihre Felle auf Hochglanz poliert waren.
Nach dem Tode der Meisterleute kam F. mit sechzig Jahren in die
Männerabteilung eines Heimes. Die Abteilung zählte vierundzwanzig
Bewohner, zum großen Teil waren die Mitbewohner von F. geistig und
körperlich behindert. F. sorgte dafür, dass er tagsüber auf dem großen
Hof, der dem Heim angegliedert war, tätig sein konnte. Nachts musste F.
das Zimmer mit drei weiteren Bewohnern teilen. Damit hatte er große
Mühe. Immer stärker zog er sich von anderen Menschen zurück, was
niemand so richtig verstehen oder erklären konnte. Mit der Zeit sprach
er kaum noch, alle meinten, F. hätte die Sprache verloren.
Eines Tages - etwa zehn Jahre später - wurde F. gefragt, ob er bereit
wäre, eine Besuchergruppe durch die Abteilung zu führen. Nach einigem
Zögern war F. dazu bereit. So begann er seine Führung durch die
Wohnstube, zeigte WCs und Bäder. Mit der Zeit folgten dem Grüppchen
immer mehr Bewohner und auch Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen wollten
wissen, was F. den Besuchern zeigen und wie er das Gesehene erklären
würde.
Dann ging es ins obere Geschoss, wo sich die Schlafzimmer befanden.
Plötzlich hielt er im Flur vor einem Schrank inne. Er zeigte auf diesen
und mit lauter Stimme erklärte er stolz: "Das ist mein Schrank, ich
will, dass er geöffnet wird." Verdutzt fragen sich die
Mitarbeiterinnen, wie es zu dieser Aufmüpfigkeit gekommen ist. Sie
öffnen den Schrank mit dem in Heimen immer noch weit verbreiteten
Vierkantschlüsseln, den nur die Betreuerinnen besitzen. Nun hat F.
Zugang zum Schrank. Er findet zum Erstaunen aller eigene Kleider. Und
dann holt er eine große Kartonschachtel aus der Tiefe des
Schrankes und zeigt auf die vielen Photos, die darin lagern. Mit
großen Augen erkennt F., dass es sich um Photos handelt, die er vor
etwa dreißig Jahren gemacht hatte, als er mit seiner Mutter noch auf
dem Bauernhof lebte. Die Herumstehenden trauen ihren Ohren nicht: F.
beginnt mit Hilfe der Bilder ohne Unterlass aus seinem Leben zu
erzählen. Er macht deutlich, dass er ein Leben durch eine Kameralinse
geführt hatte und dass er sprechen kann, wenn ihn etwas dazu motiviert.
Seine Betreuerinnen sind so beeindruckt, dass sie auf die Idee kommen,
F. zu fragen, ob er nicht die Lebensgeschichten der anderen Bewohner
herauszufinden könnte. So wurde F. zum Biographieforscher.
|
|
|