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Rudolf Welter: Lebensentwürfe, Teil 6
Knecht und Biographieforscher

F. arbeitete als Knecht auf einem kleinen Bauernhof im Berner Seetal. Seine Mutter machte auf dem Hof den Haushalt und half mit auf dem Feld, wenn zusätzliche Hände gebraucht wurden.
Die Meisterleute beachteten F. kaum. Es schien, als ob sie F. als etwas behindert wahrnahmen, was sein Denken und seine Eigenständigkeit anbelangte. Auch die Mutter von F. schätzte die Fähigkeiten des F. zum "Sich-Durchbringen und -Behaupten", wie sie sagt, nicht sehr hoch ein. Meistens erledigte sie alles für F., traute ihm kaum etwas zu. Auf dem Hof hingegen wurde er körperlich sehr stark gefordert.
Eines blieb für alle ein Geheimnis. F. gelang es, zu einer Photokamera zu kommen. Nun ging er in freien Stunden, die Kamera in einem Rucksack versteckt, über Land und in nahe liegende Dörfer. Er machte viele Aufnahmen, die er dann nachts bei Kerzenlicht betrachtete. So schuf er sich eine Welt in Bildern, baute Beziehungen zu Menschen ohne deren Wissen auf, nahm ganze Landschaften in Besitz und streichelte auf den Fotos Tiere, bis ihre Felle auf Hochglanz poliert waren.
Nach dem Tode der Meisterleute kam F. mit sechzig Jahren in die Männerabteilung eines Heimes. Die Abteilung zählte vierundzwanzig Bewohner, zum großen Teil waren die Mitbewohner von F. geistig und körperlich behindert. F. sorgte dafür, dass er tagsüber auf dem großen Hof, der dem Heim angegliedert war, tätig sein konnte. Nachts musste F. das Zimmer mit drei weiteren Bewohnern teilen. Damit hatte er große Mühe. Immer stärker zog er sich von anderen Menschen zurück, was niemand so richtig verstehen oder erklären konnte. Mit der Zeit sprach er kaum noch, alle meinten, F. hätte die Sprache verloren.
Eines Tages - etwa zehn Jahre später - wurde F. gefragt, ob er bereit wäre, eine Besuchergruppe durch die Abteilung zu führen. Nach einigem Zögern war F. dazu bereit. So begann er seine Führung durch die Wohnstube, zeigte WCs und Bäder. Mit der Zeit folgten dem Grüppchen immer mehr Bewohner und auch Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen wollten wissen, was F. den Besuchern zeigen und wie er das Gesehene erklären würde.
Dann ging es ins obere Geschoss, wo sich die Schlafzimmer befanden. Plötzlich hielt er im Flur vor einem Schrank inne. Er zeigte auf diesen und mit lauter Stimme erklärte er stolz: "Das ist mein Schrank, ich will, dass er geöffnet wird." Verdutzt fragen sich die Mitarbeiterinnen, wie es zu dieser Aufmüpfigkeit gekommen ist. Sie öffnen  den Schrank mit dem in Heimen immer noch weit verbreiteten Vierkantschlüsseln, den nur die Betreuerinnen besitzen. Nun hat F. Zugang zum Schrank. Er findet zum Erstaunen aller eigene Kleider. Und dann holt er eine große Kartonschachtel aus der Tiefe des Schrankes  und zeigt auf die vielen Photos, die darin lagern. Mit großen Augen erkennt F., dass es sich um Photos handelt, die er vor etwa dreißig Jahren gemacht hatte, als er mit seiner Mutter noch auf dem Bauernhof lebte. Die Herumstehenden trauen ihren Ohren nicht: F. beginnt mit Hilfe der Bilder ohne Unterlass aus seinem Leben zu erzählen. Er macht deutlich, dass er ein Leben durch eine Kameralinse geführt hatte und dass er sprechen kann, wenn ihn etwas dazu motiviert.
Seine Betreuerinnen sind so beeindruckt, dass sie auf die Idee kommen, F. zu fragen, ob er nicht die Lebensgeschichten der anderen Bewohner herauszufinden könnte. So wurde F. zum Biographieforscher.




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