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Rudolf Welter: Innehalten – Kapitel 5

Rudolf Welter

V


abwarten   verharren   hoffen


Geduldiges Ab - oder Zuwarten. Warten aufeinander, unerwartet erwartet werden, darauf warten, aufgefordert und abgeholt zu werden, hoffen auf ein Weiterkommen, hoffen auf das große Glück.

Ungeduldiges, hoffnungsvolles, vielleicht unerträgliches Erwarten: In Erwartung eines Ereignisses, einer guten oder schlechten Nachricht, eines Ergebnisses, einer Handlung, einer Jahreszeit, einer Befreiung.

Zähes, lange währendes, ausharrendes Durchwarten oder Auswarten: Nicht wissen, ob das lange Warten sich lohnt. Sehnsüchtiges Warten auf bessere Zeiten. Ausharren an Orten, die nichts Gutes verheißen, hoffen auf eine späte Anerkennung, verharren auf einem Standpunkt.

Fragen warten darauf, gestellt und beantwortet zu werden. Erfahrungen warten darauf, genutzt zu werden.




Entspannung erwarten

Halter sitzt auf dem Balkon vor der Küche und wartet gebannt auf Entspannendes: Auf ein nahendes Gewitter. Tagsüber war es sehr heiß und gegen Abend begannen sich Gewitterwolken aufzutürmen. Die Oberseiten schneeweiß und flach und ambossartig auskragend, die Unterseiten gräulich, weil von der Sonne abgekehrt.
Nun nimmt die Aufladung in den Quellwolken stetig zu, und aus einiger Distanz hört Halter Donnergeräusche: Die Entladung der Spannung zwischen Wolken und Erde hat eingesetzt. Mit einsetzendem Regen häuft sich jetzt auch die Blitzbildung. Und die Blätter im Kirschbaum vor Halters Augen richten sich mit dem stärker werdenden Wind in eine horizontale Lage, wie Metallspäne auf einem Magneten, wenn unter Strom gesetzt.
Halter spürt, wie sich die Luft durch den Regen abkühlt. Seine Stellung unter dem schützenden Vordach kann er nur für kurze Zeit halten, weil der starke Wind nun unzählige Tropfenschnüre bis zu ihm hinbiegt, die ihm die Füße nässen. Er muss sich in die Küche zurückziehen, um nicht ganz durchnässt zu werden. Durch das Fenster sieht er, wie ein Gemisch aus Wasser und Luft gegen das Glas geschleudert wird. Die angeschlichene Dunkelheit wird von Blitzen erhellt und die Umgebung dabei jeweils für Sekunden in ein fahles, kaltes Blaulicht getaucht. Sobald das elektrische Gleichgewicht zwischen Himmel und Erde wieder hergestellt ist, ebbt das großräumige Gewühle wieder ab und Ruhe und Frische legt sich über das Land. Eine Zeitlang ist die Luft noch durchfeuchtet und der Himmel grau. Daraufhin öffnen sich Wolkenfenster und die Sonne scheint kurz vor dem Untergang nochmals flach über die Landschaft.
Elektrische Entladungen erinnern Halter an seine frühere Arbeit auf Hausdächern. Wenn wegen nahenden Gewittern eilig offene Dächer abgedichtet werden mussten und sich an den auf den Firsten angebrachten Blitzableiterspitzen bläuliche Entladungsfäden bildeten, was mit leisem Zischen verbunden war, war es höchste Zeit, sich in Sicherheit zu bringen.



Flockenfall im Frühling

Nach einer warmen Woche, die den Winter ablöste, überschwemmte unerwartet ein Kaltlufttief das Land. Es begann zu schneien. Tagsüber und nachts. Unhörbar aber stetig verdickte sich die Schneeschicht und begrub langsam das bei vielen Menschen übereilt ersehnte Frühlingserwachen.
Ruhig wurde es, Alltagsgeräusche wurden gedämpft oder verstummten in der porösen Schicht. Und die bei Sonnen- und Wärmemenschen bereits ausgebrochene Geschäftigkeit wurde wieder gebremst. Sie mussten in ihrer Aufbruchstimmung nochmals innehalten.
So wurden Rasenmäher und Laubsammelgebläse wieder in Keller oder Geräteschuppen zurück gestellt. Motorräder, Cabriolets und Oldtimer blieben in Garagen einbalsamiert. Hunde bellten innerhalb der Wohnungen ihrer Meister und Biergelage wurden aus Gartenrestaurants in Kellergewölbe verlegt. Und Schiessstände blieben unbenutzt, weil die Schießenden die Scheiben im Flockenfall nicht mehr ausmachen konnten.
Die unifarbene, poröse Schneeschicht konservierte noch einmal für kurze Zeit die Ruhe, bis der Sommerlärm – inzwischen auch in abgelegenen Bergdörfern zu hören - über das Land herfiel.



Treffpunkt

Früher fuhren die von einer Dampflokomotive gezogenen Züge noch in die große Halle des Kopfbahnhofes ein. Sie kamen vom Osten des Landes und fuhren nach einem Lokwechsel nach Westen weiter oder umgekehrt. Die Halle muss damals so stark vom Dampf und Rauch gefüllt gewesen sein, dass sich die ankommenden Reisenden und die Wartenden erst nach dem Abzug der Dampf- und Rauchschwaden finden und begrüßen konnten.
Die große Halle dient heute verschiedenen Organisatoren für die Durchführung von Events, mit denen sie sie nahtlos besetzen. Kinos werden auf- und wieder abgebaut. Schaulaufen von Rollerskatern, Kühen und Kälbern oder Eiskunstläuferinnen finden statt. Gerüche und Geräusche von Wochen- und Weihnachtsmärkten füllen das gewaltige Volumen der Halle. Und eine üppige und bunt gescheckte Kunststofffigur, über den gehenden und stehenden Menschen baumelnd, wechselt gelegentlich ihre Position in der Halle.
Etwas aber bleibt konstant in der Halle, der so genannte Treffpunkt. Er sollte eigentlich besser mit Treffzone bezeichnet werden, denn die darunter Wartenden besetzen eine recht große Bodenfläche. Diese Treffzone wird durch einen einige Meter über Boden hängenden Kubus markiert. Auf allen vier Seiten ist ein blauer Punkt aufgemalt und vier Pfeile weisen ins Zentrum des Punktes. Die Absicht ist klar: Hier warten Menschen aufeinander, die sich verabredet haben.
Es kommen zum Beispiel vier Männer zusammen, die sich schlicht mit einem leichten Händeklapps begrüßen. Zwei Frauen, die rennend aufeinander prallen, umschlingen sich langfristig und wortlos. Oder zwei Männer, die sich begegnen, klopfen die Hände gegenseitig laut platschend auf ihre Lederjackenrücken. Zwei Verliebte küssen sich so lange, bis die Beiden außer Atem eigentlich auf den Boden der Wartezone stürzen müssten. Dann gibt es die sich geschäftlich Treffenden, in der linken Hand eine Aktentasche haltend und mit ausgestrecktem, steifem Arm sich die Rechte gebend. Es sind auch Menschen hier, die auf niemanden warten, vielleicht von Begegnungen träumen, oder einfach beobachten, schauen und warten, bis es Zeit wird, etwas essen zu gehen.
Und die, die vergebens ausgeharrt haben beim Warten, sind nicht zu vergessen. Lange stehen sie herum oder bewegen sich etwas nervös. Konstruieren Erklärungen für das Nichterscheinen, schauen in alle Richtungen und hoffen, dass die erwartete Person doch noch eintrifft. Nicht immer ist dies der Fall und die vom bangen Warten Mitgenommenen ziehen traurig ab und kommen vielleicht später nochmals zur Zone, die vom heißen Verlangen nach Begegnungen immer noch etwas temperiert ist und erst nachts, wenn die Halle geschlossen ist, abkühlt.




Mit einem Bein schon draußen?

Ich, Henri Cartier – Bresson, bereiste im Jahre 1975 verschiedene Staaten der USA, um Material für Photoreportagen zu sammeln. In New Jersey photographierte ich zum Beispiel in einem Gefängnis in einer Abteilung für Männer. Während ich durch die Abteilung ging, traf ich am Ende eines asphaltierten Flurs folgendes Bild an, das ich mit der Kamera festhielt: In die rechte Zellenwand waren mit drei starken Scharnieren zwei Zellentüren verankert. Vertikale Rundeisen und horizontale Flacheisen bildeten die Vergitterung. Ungefähr auf Brusthöhe waren Schlösser angebracht und die Rundeisen unterbrochen. Sie bildeten so einen Schlitz. Ich nehme an, dass dieser dazu diente, den Insassen das Essen in die Zellen zu reichen.
Ein Insasse streckte einen entblößten Arm durch den Schlitz. Die Hand an diesem Arm ballte er zu einer Faust. Die andere Hand lag eher entspannt auf dem Flacheisen des Schlitzes. Und erst beim Betrachten meiner Aufnahme sehe ich, geteilt durch die Gitterstäbe, Ausschnitte des Gesichtes des Häftlings: Ein Auge, die Nase und das Kinn. Und im unteren Teil der Gittertüre streckt der Häftling ein Bein, ebenfalls entblößt, zwischen zwei Gitterstäben hindurch.
Während ich Bilder festhalte, die ich entdecke, interessieren mich deren Deutungen nicht. Dies würde dazu führen, nicht mehr unbekümmert photographieren zu können. Jetzt aber, beim Betrachten dieser Aufnahme, habe ich Zeit zum spekulieren. Die geballte Faust etwa: Drückt sie Zorn eines unschuldig Verurteilten aus? Bekundet er damit seine Unzufriedenheit mit den Haftbedingungen? Oder teilt er mir bestimmt seinen Protest dagegen mit, ihn in seiner misslichen Lage photographiert zu haben? Oder das gestreckte, entblößte Bein: Steht der Häftling vor seiner Entlassung? Meint er, mit einem Bein schon in der Freiheit zu sein? Möchte das Bein der Zellenluft entkommen? Will er einem vorübergehenden Wärter das Bein stellen?
Durch diese denkbaren Interpretationen angeregt, wird mir wieder einmal bewusst, dass Stillbilder, im Gegensatz zu bewegten Bildern (Filme), eigene Spekulationen des Betrachters ermöglichen. Bei bewegten Bildern sind die Handlungen so sehr im Fluss und vorgegeben, dass ich gar nicht dazu komme, Variationen zu erfinden. Bei Stillbildern kann ich Vor- und Nachher - Situationen dazu erfinden.  
Auf Stillbildern können meine Augen verweilen. Ich kann mir Zeit nehmen, Bilder mit den Augen abzutasten. Ich kann mit den Augen darüber gleiten. Ich kann bestimmen, wie lange ich das tun will. Ich kann das Bild weglegen, um es später wieder hervor zu holen. Dann werde ich Neues darin entdecken. Denn zu einem späteren Zeitpunkt werde ich ein anderer Mensch sein. Ich werde in der Zwischenzeit neue Erfahrungen gemacht haben, mit denen ich dann das Bild betrachte werde. Das Bild wird sich verändert haben. Ich sehe vormals nicht Entdecktes darin. So kann ich ein Bild lebenslang beiseite legen, es wieder hervorholen und immer wieder ein verändertes Bild vor mir haben.
Ähnliches kann von Texten gesagt werden, die vor mir ruhend liegen, im Vergleich zu Texten, die zum Beispiel in einem Vortrag gelesen werden. Ich kann mit meinen Augen langsam oder schnell, genau oder nur oberflächlich lesen. Wenn ich will, kann ich den Text auch leise oder laut sprechen. Ich kann an bestimmten Stellen zurückgehen und ihn aus einer anderen Perspektive interpretieren. Wenn ich einen Text gelegentlich weglege und ihn später wieder lese, wird er sich verändert haben, weil ich in der Zwischenzeit andere Texte gelesen, ich mich mit anderem beschäftigt habe und sich die Welt verändert hat. Vielleicht erinnere ich mich jetzt nicht mehr, wie ich den Text vormals interpretierte, oder jetzt interessiert er mich nicht mehr.




Lieber sterben als ins Heim

Rosaline, eine Großnichte von Tante Lisa, sitzt am Tisch in der Stube ihrer Tante. Diese selbst ruht auf einem moosgrünen Plüschsofa. Sie hat ein schwarzes Seidenkleid angezogen. Beide warten auf ein Auto, das Tante Lisa in ein Heim bringen sollte.
Die Eltern von Rosaline hatten Tante Lisa in das Haus der Familie aufgenommen, nachdem sie sich, da keine Kinder aus der Ehe hervor gegangen waren, guten Gewisses von ihrem Mann hatte scheiden lassen. Er ertrug es nicht, dass seine Frau im Jahre 1889 alleine die Weltausstellung in Paris besuchte. Dort wollte sie die neuesten Modetrends der haute couture studieren, um sich davon zu Hause  beim Schneidern von Kleidern inspirieren zu lassen. Beeindruckt war sie vom Bau des Eiffelturms, der gerade fertig gestellt worden war (Großnichte Rosaline fand später ein kleines, gegossenes Modell vom Turm in einem Schrank von Tante Lisa).
Rosaline erinnert sich, dass Tante Lisa, während die Mutter kochte, mit ihrer tiefen Stimme Geschichten von Verstorbenen erzählte. Angeregt wurde sie dazu von Todesanzeigen in der lokalen Zeitung.
In Tante Lisas Wohnung lebte noch ein Huhn. Mit diesem soll sie gelegentlich spazieren gegangen sein. Vielleicht hatte sie es auch auf größere Ausflüge oder Einkaufstouren mitgenommen, bei denen sie sich am Stossbügel eines Kinderwagens festhielt. Der Kinderwagen war dann ein Transportwagen, um die eingekauften Waren und das müde Huhn nach Hause zu bringen.
Dann erkrankte Lisa. Die Eltern vom Rosaline waren bereit, sie zu pflegen. Das wollten aber die beiden Schwestern von Lisa nicht dulden. Der Vater von Rosaline glaubte, dass dies mit Erbschleicherabsichten der Schwestern zu tun habe. Jedenfalls beschlossen die beiden, Lisa in ein Heim zu überführen, um sie auf diese Weise von der Familie fort zu bringen.
Nun warten also Tante Lisa und ihre Großnichte auf das Auto mit den beiden Schwestern, die sie abholen sollten. Rosaline sieht, alleine mit ihr in der Stube, dass Tante Lisa sehr traurig ist. Sie spürt, dass die beiden Schwestern sie los haben und die Familie von Rosaline sie bei sich behalten wollen.
Jetzt geht Rosaline ans Fenster und sieht das Auto vorfahren. Sie teilt dies Tante Lisa mit. Mit Staunen beobachtet Rosaline, wie ihre Tante unverzüglich den Kopf zur Seite legt und ausatmet. Rosaline, überrascht vom raschen Sterben ihrer Tante, muss leise vor sich hinlachen. Sie spürt den Triumph ihrer Tante über die Schwestern, die nun ihren Plan nicht ausführen konnten. Sie eilt ins Gewächshaus zu ihrem Vater und teilt ihm die Botschaft vom Tod Lisas mit. Jetzt muss Rosaline laut heraus lachen aus Freude über die Standhaftigkeit ihrer Tante, sich nicht aus dem Haus ihrer Eltern und ihrer lieb gewordenen Wohnung vertreiben zu lassen. Der Vater findet das Lachen seiner Tochter gar nicht amüsant und verpasst ihr eine Ohrfeige.



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