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Rudolf Welter: Innehalten – Kapitel 4

Rudolf Welter

IV


zögern   bedenken   schwanken


Zögern heißt für bedächtig Gehende oder Denkende sich aufhalten lassen, sich Zeit nehmen, verweilen, oder sich verweigern. Für Unentschlossene bedeutet zögern zweifeln, unschlüssig sein, etwas hintanstellen, vertagen. Für Ängstliche drückt zögern bangen aus, sich scheuen, heikle Fragen zu stellen.

Bedenken bedeutet für sorgfältig Lebende abwägen, beachten, jemanden oder etwas ernst nehmen, sich kümmern um, vorsorgen, überlegen. Für Vorsichtige heißt bedenken acht geben, Gefahren erwägen und berücksichtigen. Bedenken bedeutet für Aufmerksame zuhören, aufhorchen, mustern und für misstrauische Menschen abwarten, befürchten, zweifeln.

Schwanken heißt für in Optionen denkende Menschen abweichen, differenzieren, variieren, überraschen. Schwankende können stutzig sein, vor etwas zurückschrecken, etwas offen lassen oder etwas einwenden, zwischen Alternativen oszillieren. Schwanken kann auch gefährlich sein!




Zurückgehaltene Briefe

Menschen schreiben Briefe, die sie dann aber nicht abschicken. Zögern sie, einen Brief abzuschicken, weil sie vermuten, dass der Inhalt dem vorgesehenen Empfänger nicht zusagt? Oder auf ihn beleidigend wirken könnte? Oder beim Empfänger Erwartungen auslöst, die der Absendende nie erfüllen kann oder will? Oder zögern Briefeschreiber mit dem Absenden, weil sie mit der Möglichkeit rechnen, dass der Brief womöglich von einer nicht für das Öffnen bestimmten Person gelesen wird?
Ist ein Brief einmal im Briefkasten und abgeschickt gibt es kein Zurück. Der Brief wird für den Absender dann unerreichbar. Er kann den Brief nicht mehr aus dem Kasten zaubern. Er kann weder die Beförderroute ausfindig machen, noch das Eintreffen beim Empfänger verhindern. Er könnte zwar den Empfänger anrufen und ihm mitteilen, dass ein Brief an ihn unterwegs sei, er ihn aber ungeöffnet wieder zurück schicken solle. Das wäre für den Absendenden allerdings peinlich und würde beim Empfänger Nervosität und Fragen bewirken: Was ist im Brief wohl ausgesagt, angekündigt, beschrieben, versprochen, behauptet oder offenbart, dass ich als Empfänger nicht erfahren soll was drin steht? Warum soll der Brief ungeöffnet wieder an den Absender zurück?
Also besser keine Briefe schreiben und abschicken, um die ungewissen Reaktionen des Empfängers nicht ertragen zu müssen? Oder eine gewisse Zeit lang innehalten und den Brief später abschicken? Sollen die Botschaften besser mündlich vermittelt werden? Soll der geschriebene Brief einfach weggelegt und vergessen werden, um ihn nach Jahren, wenn vielleicht zufällig gefunden, wieder zu lesen? Und beim Lesen feststellen, dass der Grund des Zurückhaltens in Vergessenheit geraten ist?

Im Buch ‚Bozena’ von Härtling finden sich viele Briefe, die die Hauptperson Bozena an ihren Geliebten schreibt, aber nie abschickt. Sie sagt an einer Stelle: „Sie werden diesen Brief nie zu Gesicht bekommen, darum leiste ich es mir, mich offen mit Ihnen zu unterhalten“. Das Schreiben von Briefen, die sie nicht abschickt, gibt ihr einen geschützten Raum, in dem sie mit ihren Gefühlen für den Geliebten umgehen kann. Beim Lesen der zurückgehaltenen Briefe und den Gedanken, die sich Bozena vor dem Schreiben macht, aber meint man dem Text entnehmen zu können, dass sie insgeheim hofft, die Briefe würden doch eines Tages noch beim Geliebten „ankommen“: Ist es ihre Hoffnung, dieser spüre, dass Briefe an ihn gerichtet sind? Oder drückt Härtling mit dem Text aus, dass Bozena mit dem Briefeschreiben einen Partner sucht (sie ist eine einsame Person), sie aber von gar niemandem eine Antwort erhalten will.

Ein anderes Beispiel. In ihrer Novelle ‚A Love Child‘ lässt die Autorin Doris Lessing den Offizier James, der mit einer Division der britischen Armee im zweiten Weltkrieg in Indien stationiert ist, Liebesbriefe an seine Geliebte Daphne in Cape Town schreiben. Da ein generelles Verbot herrscht, Briefe aus dem Camp abzuschicken und James gleichzeitig verunsichert ist, wer seine Briefe an Daphne öffnen (sie ist verheiratet) und wie sie auf die Briefe reagieren würde, behält James die Briefe Not gedrungen für sich. Er beabsichtigt, sie nach Kriegsende abzuschicken.
Etliche Jahre nach Kriegsende entscheidet aber James, nach Cape Town zu reisen, um Daphne die Briefe persönlich zu überreichen. Dort trifft er sie aber nicht, sondern eine Freundin von ihr. Nach längeren, inständigen Bitten verspricht diese, die Briefe an Daphne weiter zu leiten. Am Ende der Novelle lässt die Autorin James und die Leser im Glauben, dass Daphne die Briefe erhalten und gelesen habe. Und dass er jederzeit einen Anruf oder einen Brief von ihr erwarten dürfte.


Es gibt aber auch Menschen, die Briefe von Mitmenschen zurückhalten, die sie für diese hätten weiterleiten müssen. In vielen Romanen, Biographien und Filmdrehbüchern wird diese Unredlichkeit von Autoren dazu verwendet, um bei Lesern oder Betrachtern eine intensive Anteilnahme an den Schicksalen der auftretenden Hauptpersonen zu provozieren.
Ein Beispiel: An einem Konzert eines Rocksängers stehen wie immer Verehrer und Verehrerinnen am Bühnenrand, um möglichst nahe bei ihrem Idol tanzend verharren zu können. Auch eine junge Dame befindet sich darunter. Sie nimmt intensiv Augenkontakt mit dem Sänger auf, bis dieser ihre Annäherungsversuche versteht. Er sieht in der jungen Frau ein attraktives Gegenüber, allerdings von oben herab. Mit einer für Nichtbeteiligte kaum wahrnehmbaren Gestik vereinbaren die Beiden, sich nach dem Konzert zu treffen. Kaum beieinander, nimmt der Sänger die Frau in sein Hotelzimmer, in dem er während der Konzerttour logiert. Aus dem Aufenthalt im Zimmer resultiert ein Kind. Das weiß der Sänger allerdings nicht, weil er ohne weitere Informationen über seinen späteren Aufenthalt an die Mutter des Kindes mit seiner Band weiterzieht.
Das Kind erfährt als junges Mädchen, dass ihr Vater ein bekannter Rocksänger ist. Sie will ihn kennen lernen. Die Mutter aber sucht dies zu verhindern. Sie will nicht, dass ihre Tochter mit einem derart pflichtvergessenen Menschen zusammen kommt und womöglich mit ihm zusammen leben könnte. Sie macht ihr verständlich, dass sich der Vater um sie überhaupt nie kümmerte. Bei einem Treffen der Beiden ergibt sich aber, dass der Sänger kurz nach der Trennung viele Briefe an die werdende Mutter schrieb, in der er ihr seine noch währende Zuneigung versicherte. Der Manager des Sängers, der die Briefe hätte zur Post bringen sollen, behielt aber alle zurück. Nachdem sich Tochter und Vater doch getroffenen hatten, kam es bei dieser Geschichte zu einem Happy End.





Wenn Lotte S. schreien würde

Lotte S. weilt seit einiger Zeit in einem Innenhof, der durch Häuserfronten gebildet ist. Unerwartet kommt sie auf den Gedanken sich zu fragen, was geschähe, wenn sie jetzt laut schreien würde. Nicht dass sie einen offensichtlichen Grund gehabt hätte. Sie war noch nie in einer Schreitherapie, wo sie dies hätte lernen können. Sie fühlt sich momentan auch nicht depressiv, noch hat sie jemand verärgert oder zornig gemacht. So begreift sie schlussendlich, dass es die ihr eigene Experimentierfreudigkeit ist, die sie dazu bewegt, an unterschiedlichen Orten ein Probeschreien zu veranstalten, um dessen Auswirkungen zu testen. Sie zögert jedoch, hier laut zu schreien und sagt sich, dass sie auch ein stummes Probeschreien durchführen könne.
Also stellt sie sich vor, wie ihr Gesicht beim Schreien mit weit aufgerissenem Mund in einem Fenster gespiegelt würde. Wie sie die Geräusche ihres Schreiens, die sich zwischen den Häuserzeilen hin und her jagen, hören würde. Und stände sie nahe genug an einer Hauswand, würde sie wahrscheinlich eine leichte Druckwelle spüren und ihren Atem riechen, die als Folge ihres Schreiens dem Rachen entweichen. Und sie stellt sich vor, dass mit Sicherheit Fenster geöffnet und Bewohner sie irritierend fragen würden, was sie da im Hof herumzuschreien hätte. Sie würde etwas kleinlaut und unsicher antworten, dass sie vor einigen Minuten auf die Idee kam, die Schreieffekte von unterschiedlichen Orten versuchshalber erleben zu wollen. Keine anderen Motive hätten sie zum Schreien bewegt. Und sie stellt sich vor, wie daraufhin die Bewohner kopfschüttelnd die Fenster schließen und hinter Vorhängen ihrem Tun noch eine Weile zuschauen würden.
Um das Experimentieren fortzusetzen, entschließt sich Lotte S., das Schreien in Gedanken noch an einem völlig anderen Ort auszuprobieren: Auf einer riesigen Ebene. Ruhig wäre es dort, kein Mensch oder Tier hoch und weit wäre zu sehen. Windstill wäre es und hell, es könnte auch Nacht sein, denkt sie sich. Sie würde vorab überlegen, in welche Richtung sie schreien sollte. Sie hätte ja die Wahl, sich um die eigene Achse zu drehen und vom Zufall geleitet dort zu schreien, wo die Körperdrehung gerade stoppt. Und was geschähe dann beim Schreien? Sie weiß es genau: Ihr Gesicht mit offenem Mund würde in keinem Fenster reflektiert und kein Mensch würde das Schreien durch offene oder geschlossene Fenster hören. Niemandem wäre sie wegen ihrem Schreien Rechenschaft schuldig. Keine Hindernisse würden ihre Schreie zurück werfen. Sie würden sich weit in die Ebene hinaus ausbreiten und allmählich abklingen. Und ihr Schreien und die verzerrten Gesichtszüge würde nur sie alleine wahrnehmen.




Verschobene Heimkehr

In Franz B. kommt ein Gefühl hoch, das ihm sagt, er müsste an seine Heimkehr denken. Er ist der Meinung, sich lange genug am Ort, den er für seine Erholung gewählt hatte, aufgehalten zu haben. Je länger er sich aber mit Heimkehrgedanken beschäftigt, widerspricht etwas in ihm, dass er für die Heimkehr doch noch nicht bereit sei. Ist es die noch immer schwierige Situation zu Hause in der Familie, die mich dazu bringt, meine rasche Abreise zu verzögern, fragt sich Franz B. Trotz seiner Zweifel entscheidet er, die Koffer zu packen. Vielleicht stelle ich mich zu einer Abreise anders, sobald mein Hotelzimmer einmal frei von meinen persönlichen Gegenständen ist.
Nach dem Mittagessen, das er eigentlich nicht mehr hier im Hotel einnehmen wollte, begab er sich auf einen Spaziergang, den er während seinem Aufenthalt mehrere Male gegangen war und der ihm sehr vertraut geworden ist. Dabei fällt ihm auf, dass er auf diesen Gängen nie an seine Situation zu Hause gedacht hatte, und dass ihm diese erst kurz vor seiner Abreise wieder bewusst wurde.
Während er sich auf einer Bank des örtlichen Verkehrsvereins ausruht, von der aus er zahlreiche Photographien der Landschaft machte, erinnert er sich, dass er Photographien von Frau und Kindern auf sich trägt. Beim Betrachten der Bilder merkt er, dass er zögert Fragen zu den Ursachen zu stellen, die zur schwierigen Situation zu Hause führten. Warum zögere ich, fragt sich Franz B.? Weil ich mich vor Antworten auf meine Fragen fürchte? Oder weil ich daran zweifle, überhaupt Antworten auf meine Fragen zu finden? Habe ich gar verlernt Fragen zu stellen, weil ich in meinem Leben immer nur Fragen anderer beantworten musste?
Franz B. sagt sich, dass es keinen Sinn mache, mit solchen Fragen auf der Stelle zu treten. Er entscheidet, die Dinge zu Hause auf sich zukommen zu lassen. Er meint, dass er von hier aus doch nichts ändern könne, dass er seine Lage ausstehen müsse. Franz B. bricht auf und trifft auf eine Absperrung mit der Aufschrift ‚Durchgang verboten’. Wohl ein Zeichen von irgendwoher, dass es Zeit ist, umzukehren und nach Haus zurück zu kehren, sagt er laut und deutlich und froh zu sich.



Warum nur?


Ein Mann fährt auf einem Fahrrad durch einen Park. In der einen Hand hält er einen Pappumschlag. Er nähert sich einem Mülleimer, stoppt daneben, beugt sich über ihn und macht sich daran, den Pappumschlag darin zu versenken. Im letzten Moment zögert er. Er schaut sich den Umschlag nochmals an, sieht darauf ein Etikett kleben, liest das Geschriebene, entfernt das Etikett und versenkt nun den Umschlag in den Mülleimer. Einige Minuten später wurde der Mülleimer geleert.













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