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Rudolf Welter: Innehalten – Kapitel 3
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III aufspüren begegnen erkunden
Gefahren begegnen, die den Schutz von Menschen, deren Hab und Gut bedrohen können. Innehalten und sich vorstellen, dass etwas Schlimmes passieren könnte. Nichts tun oder handeln?
Verschüttete Ruhestätten längst Verstorbener aufspüren und darüber rätseln: Wer war der, die Tote, was war die Todesursache?
Durch Erd- und Eisschichten ins Innere der Erdkruste eindringen und vergangenen Zeitaltern begegnen. Über Jahrmillionen Ruhendes ergründen und nicht mehr in Ruhe lassen. Hier und dort Wohnstätten aufspüren, beziehen und mit diesen für eine Weile verbunden sein. Zerstörte Wohnstätte im Kopf wieder aufbauen: So könnte sie ausgesehen haben.
Gefährdeter Schutzschirm
Wie viele Familien, lagert auch die Familie X unzählige Habseligkeiten im Estrich unter dem Dach. Dinge, die gelegentlich benötigt werden (z.B. Koffer) und Dinge, die einmal untergebracht, oft in Vergessenheit geraten. Eines Tages geht der Vater zum Estrich hoch, um wieder einmal nachzusehen, was dort alles lagert. Weil das Licht nicht in dunkle Nischen scheint, hat er eine Taschenlampe bei sich. Wie er nun seinen Kontrollgang aufnimmt, den Estrich ausleuchtend, sieht er auf vielen Gegenständen ein Pulver, das sich bei näherem Betrachten und Anfühlen als feines Sägemehl entpuppt. Kleine Hügelchen dieses weißlichen Mehles liegen auf Koffern, Schuhen, Kleidersäcken und Ordnern wie auch auf unbelegten Bodenzonen. Wo dieses Mehl wohl herkommt, fragt sich der Vater? Die Reportage kann nun zwei Wendungen nehmen, entweder eine den Bewohnern gut gesinnte oder eine ihnen übelgesinnte. Vorerst die gut gesinnte Version: Vater benachrichtigt den Hausmeister über das Gesehene. Beide steigen in den Estrich, wo sich der Hausmeister aufmerksam umsieht und dann erbleicht: Der ganze Dachstuhl sei vom Borkenkäfer befallen, stellt er fest und ergänzt fachmännisch, dass es sich um den achtzähnigen Fichtenborkenkäfer handle (als ‚Ips typographus’ bezeichnet, weil er Buchstaben ähnliche Spurenbilder unter der Rinde von Stämmen und im Holzinnern frisst). Der Hausmeister beauftragt unverzüglich eine Firma, die dann den Dachstuhl saniert. So wird an allen Balken das befallene Holz abgeschält und anschließend mit tödlicher Flüssigkeit bespritzt. An manchen Orten wird diese auch in die Balken injiziert. Alles wendet sich zum Guten, der Dachstuhl ist gerettet, das Dach über den Bewohnern leistet weiterhin seine schützende Funktion. Die üble Version: Der Vater verlässt den Estrich, ohne sich weiter Gedanken über das dort Festgestellte zu machen. Folglich nagen die Borkenkäfer ruhig weiter, fressen sich auch noch durch gesun... Hol. , bis schließlich der ganze Dachstu.. durchlö..... ist. Winter ist’s. Schnee fällt, nass ist er und daher schwer. Und die Käfer nagen weiter. Jetzt kommen auch die Da. hlat... dran, welche die Ziegel tragen. Dün..r und dün... werden sie, kaum noch können sie die große Schneelast tragen. Auch die Balken verli... n mehr und me.. ihr Volu... , mehr und mehr biegen sie sich durch. Als dann noch ein starker Sturm nachts über das Dach braust, kann der Dachstuhl nicht mehr anders: Die zerstörten Strukturen der tragenden Balken und Latten führt zu einem Kollaps des Dachstuhles. Die Bewohner schrecken auf, Vater erinnert sich an seinen Kontrollgang und überlegt sich, ob er damals vielleicht doch hätte anders handeln sollen. Ob wohl sein Hirn sch. n von Alzhe.. erkäf.. durc. lö.. hrt ist, fragt er sich auch.
Entdeckte Ruhestätte
Halters Sohn vertieft mit Hilfe starker Hände und Arme, die einem Mann aus Kalabrien gehören, der sonst im örtlichen Straßenbaugeschäft arbeitet, einen Teil des Kellerbodens im Haus der Familie. Er will sich dort eine Werkstatt einrichten. Dazu braucht es einen stabilen, isolierten Boden. Unerwartet ruft der Sohn, Halter und seine Frau sollten sich sofort in den Keller begeben, es sei etwas Merkwürdiges zum Vorschein gekommen. Sie gehen nach unten, sehen die beiden Männer mit Schaufeln neben einer Bodenvertiefung ruhen. Der Mann aus Kalabrien schlägt immer wieder mit der freien Hand auf der Stirn und der Brust das Kreuz: In der Vertiefung liegen Knochen. Sie liegen mehr oder weniger geordnet, dem Abbild eines Körpers entsprechend. Alle Anwesenden fangen an zu spekulieren, was wohl die Anderen denken, welcher Art Lebewesen die Knochen zugeordnet werden könnten. Dem Kreuz schlagenden Mann wird ein menschliches Lebewesen zugemutet, weil er bei tierischen Wesen wohl kaum Kreuze schlagen würde. Mutter Halter meint, dass es sich eindeutig um das feine Knochengerüstlein eines Säuglings handle und erzählt gleich die folgende Geschichte: Eine im siebzehnten Jahrhundert im Haus lebende Magd wurde vom wohlhabenden Weinbauer geschwängert (das Haus wurde im Jahre 1674 gebaut). Die Magd gebar dann ihr Kind, tötete es und vergrub es heimlich im Keller. Und jetzt kommt, nach Mutter Halter, die ganze tragische Geschichte im dämmrigen Licht des Kellers zutage. Der Sohn und Halter denken da etwas weniger dramatisch, ein Hund könnte es gewesen sein, sagen sie. Der Mann aus Kalabrien kann sich noch immer nicht zu einer Meinung durchringen. Als Mutter vorschlägt, einen Archäologen bei zuziehen - solche haben hinter dem Haus einen Sodbrunnen ausgegraben und instand gestellt - kommt der Sohn in Panik. Er weiß von anderen Fällen, dass diese Fachleute die Ausführung von Bauvorhaben über lange Zeit aufgehalten haben. Und das sollte ihm nicht passieren, denn er wollte rasch möglichst seine Werkstatt haben. Für ihn ist klar, dass die Knochen von einem Hund stammen und entfernt werden müssen. Die Knochen einem menschlichen Wesen zuzuordnen würde wohl bedeuten, dass er seine Säge-, Hammer- und Bohrgeräusche verursachende Werkstatt nicht auf einem ehemaligen Menschengrab bauen könnte. In Abwesenheit der Mutter lässt der Sohn die Knochen unter brennbarem Abfall in einer vor dem Haus stehenden Mulde verschwinden. Und so landen die Knochen in einer großen Kehrrichtverbrennungsanlage, in der sie, als Überreste eines einst lebendigen Wesens ohne jede Anteilnahme von noch lebenden Menschen anonym kremiert werden.
Gestörte Ruhestände
Tunnelbauer
dringen waagerecht in Gesteinsschichten vor, die kein Mensch je gesehen
hat und kippen die Ausbrüche an das Tageslicht hinein ins Neozoikum. Geologen
bohren senkrecht durch Eisschichten, hieven Jahrtausendjahrringe an die
Oberfläche, lagern sie in Kühlhäusern und analysieren die
Zusammensetzung der Eisschichten. Taucher tauchen zum Meeresgrund und bescheinen ihn zum ersten Mal mit Flutlicht. Astronauten fliegen durch jungfräuliche, luftleere Räume und wirbeln auf fernen Himmelskörpern zum ersten Mal Staub auf.
Was ist das für eine Stadt?
Vom
Festland aus fahren die Bewohner und die Besucher über einen etwa acht
Kilometer langen Damm auf die Inselstadt hinaus. Der Damm ist breit.
Mehrspurige Autobahnen und Eisenbahngleise finden darauf Platz. Im
Sommer ergießen sich tausende von Menschen in die Stadt. Dies führt
dazu, dass die Menschen den Stadtboden oft unter den Spiegel des die
Stadt umgebenden Wassers drücken. Plätze werden überflutet, Tauben
landen nicht mehr und Besucher und Kellner von Straßenkaffees bekommen
nasse Füße. Vielen Einheimischen wird dies mit der Zeit zu viel. Sie
übersiedeln auf das Festland. Es ist absehbar, dass bald nur noch
Touristen in die Inselstadt kommen und sie eines Tages mit diesen
untergeht. Dann werden Seufzer von Brücken ertönen und nur ein Blubbern
auf der Wasseroberfläche wird andeuten, an welcher Stelle sich die
Stadt einst befand.
(Laut einem Zeitungsbericht sinkt die Stadt
Shanghai jährlich um einskommafünf Zentimeter ab, einzelne Stadtteile
unter dem Gewicht der zahlreichen, nahe nebeneinander stehenden
Hochhäuser gar um drei Zentimeter)
Ein anderes Szenario: Das
Weltklima hat sich derart verändert, dass eine lang andauernde
Trockenheit zu beklagen ist. Davon ist auch die Inselstadt betroffen.
Die Bewohner irren verängstigt umher, alle Boote liegen auf dem
Trockenen und in den sonst von diesen befahrenen Wasserstrassen jagen
sich Radrennfahrer des Giro d'Italia. Die über die vormals vorhandenen
Wasserstrassen querenden Brücken wurden abgebrochen, trotz Protesten
der örtlichen Denkmalpflege. Niemand mehr, außer den Mitgliedern dieser
Pflege, konnte noch einen Sinn im Vorhandensein von Brücken sehen.
Neben den großen Parkplätzen am Rande der Stadt wurden solche nun auch
im Stadtinnern angelegt. Die aus allen Teilen der Welt kommenden
Touristen können sich endlich mit Taxis vor die Hotels fahren lassen.
Etwas Gutes habe die Austrocknung der Stadt auch, stellen die
verbliebenen Bewohner fest: Die Fundamente ihrer Häuser hätten
aufgehört zu zerfallen und sich dauernd abzusenken.
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