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Rudolf Welter: Innehalten, Kapitel 1, Teil 1

Rudolf Welter
I

stillhalten   pausieren   erstarren

Winzige, kaum wahrnehmbare Bewegungen von Körperteilen: Augenlieder schließen und öffnen sanft, Wimpern biegen leicht durch. Oberkörper kippen leicht zur Seite, Arme werden sachte angehoben, Füße leicht versetzt. Pupillen bewegen sich unmerklich hin und her. Finger führen kleinste Knick-, Dreh- oder Klopfbewegungen aus.

Pausieren, scharf beobachten und Überraschungen erleben. Hirnströme fließen und verknüpfen Hirnzellen miteinander und bilden Erinnerungen ab. Flüssigkeiten fließen langsam durch Körper. Uhren stehen still oder gehen verlangsamt. Bleistifte oder Kugelschreiber werden an Ort bewegt. Erdbahnkreuzer stehen schlagartig still.

Verletzte Extremitäten oder starker Gegenwind behindern das Vorwärtskommen, führen gar zu Stillständen. In Träumen an Ort gehen oder zähes, klebriges Vorwärtskommen verspüren. Wegen Unvorsichtigkeit anfrieren (erzwungene Stillstände), Ängste ausstehen, warten auf Hilfe. Geduldig stillhalten, sich hingeben und etwas erwarten. Schlagartige Stillstände lösen Katastrophen aus.


Geduldig stillgehalten

Vor bald fünfzig Jahren zeichnete Halter den Kopf seines damals etwa fünfzig Jahre alten Vaters im Profil. Gegenwärtig steht die Zeichnung vor ihm und er betrachtet sie nachdenklich. Er versucht sich daran zu erinnern, was zwischen ihnen vor sich ging, während der Vater stillhielt und er mit Bleistift Grautöne aufs weiße Papier brachte, die langsam zu einem Stillbild des Profils vom Vater anwuchsen.
Halters Gedächtnis lässt ihn im Stich, wenn er eine Antwort auf die Frage sucht, wer eigentlich von den Beiden die Idee hatte, dieses Bild anzufertigen. War es sein etwas eitler Vater, der ein Abbild von sich wünschte? Und wo hätte er es bis zu seinem etwa siebzehn Jahre später eintretenden Tod gerne hängen gesehen? In seinem Büro, im Wohnzimmer der Familie? Oder wollte er es in seinem Gedächtnis zur Arbeit mittragen? Oder war es Halters Anliegen, sich wieder einmal im wissenschaftlichen Zeichnen zu üben, das er damals an der Kunstgewerbeschule gelernt hatte? Wollte er seinem Vater mit der Zeichnung nachweisen, dass er dort etwas Sinnvolles, Anschaubares gelernt hatte?
Während Halter den Bleistift präparierte - mit Stechbeutel und feinem Schleifpapier - setzte sich der Vater vor einem Fenster auf einen Stuhl zur sonntäglichen Sitzung bereit. Dann begann Halter mit der Übertragung von Vaters Profil mit seinen Linien und Flächen aufs Papier. Sein Kopf bewegte sich dazu wie beim Nicken: Kopf auf und beobachten, Kopf runter und zeichnen, auf und ab, ab und auf.
Nach einiger Zeit wurde der Vater immer etwas ungeduldig und fragte, mit Blick geradeaus, wie weit das Abbild schon gediehen wäre. Nun wurde auch der Sohn etwas ungeduldig und erwiderte, dass wissenschaftliches Zeichnen vom Modell und vom Zeichner viel Zeit und Geduld erfordere. Und so saß der Vater nochmals für etwa eine Stunde still. Dann hatte er endgültig genug, erhob sich und wollte die Fortschritte auf dem Papier sehen. Wahrscheinlich bemerkte er dazu, dass er keine großen Fortschritte feststellen könne. Und ob diese langsame, schier unmerkliche Zunahme an Bildfülle wohl zum Stil des wissenschaftlichen Zeichnens gehöre, muss er gefragt haben.
Die Beiden gaben aber nicht auf und an folgenden Sonntagen wurden weitere Sitzungen abgehalten. Bis zum Punkt, an dem Halter entschied, dass das Resultat seinen Anforderungen genügte und er nicht mehr weiter daran arbeiten wollte (eine Zeichnung müsse an jedem Punkt der Entstehung abgeschlossen und eine gute Zeichnung sein. Wie ein gutes Leben auch, hatte der Lehrer an der Schule jeweils seinen zeichnerischen Demonstrationen beigefügt).
Das Bild von Vater hing lange Jahre in der Wohnung von Halters Mutter bis Halter sie fragte, ob er es von ihr borgen dürfte. Nun steht es vor ihm und er fragt sich, was Vater damit gemacht hätte, wenn er länger hätte leben können. Er hätte wahrscheinlich sein alterndes Gesicht gelegentlich in einem Spiegel mit dem gezeichneten Abbild verglichen.


Schreiben an Ort

Ein Versuch: Fasse einen Bleistift oder einen Kugelschreiber und nimm ein Blatt Papier. Setze nun das gewählte Schreibgerät aufs Papier und schreibe den folgenden Text: ‚Schreibgerät nicht vorwärts bewegen, Buchstaben übereinander schichten’. Die kleine Schreibfläche auf dem Papier wird nun, bevor der obige Satz zu Ende geschrieben ist, zunehmend schwärzer, klebriger, schmieriger bis zum Punkt, wo der Schreibende vermutlich protestiert: An Ort schreiben ist so widerlich und undurchführbar wie denken an Ort, oder sprechen an Ort, oder lesen an Ort.

Ein zweiter Versuch: Nimm ein Blatt Papier, einen Bleistift oder einen Kugelschreiber, setze das Schreibgerät aufs Papier und schreibe deinen Namen, indem du mit der linken Hand (Linkshänder nehmen die rechte Hand zu Hilfe) das Blatt Papier mit einer angemessenen Geschwindigkeit nach links (oder nach rechts) ziehst. Das Schreibgerät verweilt an Ort und das Blatt Papier bewegt sich bis der Name geschrieben ist. Ende des Experimentes (auf diese Weise wurde wahrscheinlich die gute alte Schreibmaschine erfunden, bei der sich die Papierwalze hin- und herbewegt. Manchmal verklemmten sich zwei bis drei Typen und pausierten vor dem geschriebenen Text, als wollten sie nachsehen, was der allzu schnell oder unpräzis Tippende geschrieben hatte).


Ordner

Ordner sind Datenhalter. In Ordnern werden Akten, Artikel, Rechnungen, Bestellungen oder Offerten abgelegt, dort kommen sie zur Ruhe. In Ordnern wird beschriebenes Papier eingesehen oder umgeordnet.
Selbst im Zeitalter der elektronischen Datenverarbeitung und – speicherung werden in Büros noch immer Ordner verwendet. Möglicherweise kommt dieser Wunsch daher, dass es Menschen gibt, die ihre geleistete Arbeit noch in Form von Papier sehen wollen. Oder weil ein Regal mit hundert Ordnern auf Besucher mehr Eindruck macht, als zwei auf einem Tisch stehende Computer, obwohl diese ein Vielfaches an Daten speichern können als die hundert Ordner zusammen genommen. Und vielleicht macht das Ablegen von Daten auf Papier in Ordnern ganz einfach mehr Spaß, weil es eine einfache, manuelle, für den Einordnenden einsehbare Tätigkeit ist:
Zuerst wird im Papierstapel des Ordners die Stelle gesucht, wo ein neues Papier abgelegt werden soll. Dann wird der Stapel Papier an dieser Stelle geteilt und der obere Teil des Stapels auf die linke Seite umgelegt. Das Umlegen des Papiers wird entlang halbrunder Bügel geführt, die das gelochte Papier zusammen halten. Jetzt werden die Bügel mittels eines Hebels getrennt. Durch die entstandene Lücke wird nun das einzufügende Papier (vorgängig gelocht) in die offenen Bügel eingefahren. Daraufhin werden die Bügel geschlossen und der links liegende Papierstapel wird wieder auf die rechte Seite gebracht. So ruhen alle Papiere wieder auf einem Stapel und der Deckel des Ordners kann geschlossen werden. Er bleibt in Reichweite des Nutzers liegen oder wird in einem Regal an die entsprechende Stelle gestellt.




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