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Post aus Perturbistan 9 – Wo sind Sie?
Lothar Eder, Mannheim (perturbistan@web.de):


Wo sind Sie?

Und dann entwand sich dieser Schrei, dieser Ruf nach dem anderen aus meinem Inneren. Wo sind Sie? In Bonn oder in Buxtehude oder in Bombay oder wo? Sind Sie ein Mensch oder eine Computerstimme oder ein Klon? Kann ich Sie schütteln, fließt Blut, wenn Sie sich schneiden? Mein Gegenüber am anderen Ende des Telefonsupports gab sich situationsretterisch. Nun, Herr Turbistan, kann ich sonst noch etwas für Sie tun (ich war schon froh, nicht mit meiner sechsstelligen Pinnummer angesprochen zu werden)? Neinnein. Entschuldigen Sie. Danke und Auflegen.
So kannte ich mich nicht. Ich hatte wohl einfach genug.
Klar war früher alles anders und ich werde älter und gewöhne mich nicht mehr so schnell an das Neue. Ich bin gewohnt, daß die Dinge und die Menschen ihren Ort und alles zusammen eine gewisse Übersichtlichkeit hat. Früher gab es den Bäcker, den Metzger und die Post und das Mineralwasser (Sprudel genannt) brachte der Getränkemann (das Bier auch). Schokonikoläuse gab es im Dezember und Osterhasen, wenn’s soweit war (heutzutage schmilzt der Nikolaus beim Schlecker schon Ende September mild vor sich hin). Das Telefon seinerzeit wurde von einem Herrn installiert, der einem Staatsunternehmen angehörte und der war meist auch zuständig für etwaige Beschwerden. Einmal war meinem Vater der Apparat heruntergefallen und kaputtgegangen. Der Telefonmann kam vorbei und untersuchte das Gerät. Vorher war in der Familie vereinbart worden, daß man das Herunterfallen verschweigen und sich ahnungslos stellen würde. Der Mann schraubte das Telefon auf, drehte es hin und her, schob ein paar Drähtchen beiseite und fragte dann "ist das Ding mal runtergefallen?". Meine Eltern hatten mich zur Wahrheitsliebe erzogen und so beschied ich die Anfrage positiv und zwar unter Angabe des Verursachers. Man hatte wohl vergessen, mir beizubringen, daß Familienloyalität vor Wahrheitseros geht. Mein Vater schickte mir einen Blick von der unangenehmen Sorte; der Telefonmann aber bewies Souveränität und lächelte ein wenig in sich hinein. Ein paar Minuten später funktionierte der Apparat wieder und er verließ unsere Wohnung mit einer scherzhaften Ermahnung für meinen Vater.
Mein Telefon gehört heute mir und wenn ich es herunterfallen lasse, kommt kein Telefonmann mehr. Der legt heute nur noch die Leitung (bzw. er tut so als ob) und ist in der Regel ein Subunternehmer, dem die Telefongesellschaft in einer aufwendigen Schulung (die er wahrscheinlich selbst bezahlen mußte) beigebracht hat, wie man es schafft, eine garantiert andere Auskunft zu geben wie der Kollege letzte Woche. Und wie man mit den Worten "alles klar" möglichst schnell die Wohnung verläßt, bevor der Kunde merkt, daß der Anschluß immer noch nicht funktioniert. Für seinen Stundensatz mit An- und Abfahrt kann ich mir mindestens zwei neue Geräte kaufen. Wenn das Telefon funktioniert (was es gottlob meistens tut), kann ich andere Menschen anrufen. Und ich kann angerufen werden. Zu jeder Zeit. In meinem Elternhaus gab es die Regel, nach der Tagesschau ruft man nur noch aus dringendem Grund an. Heute werde ich von fremden Menschen, die früher mit ihren Eltern vielleicht die Tagesschau nicht sehen durften, spät abends angerufen. Man teilt mir mit, ich sei auserwählt und bekäme für einen Spottpreis dies und das, allerdings müßte ich mich gleich entscheiden. Spreche ich mit Herrn Turbistan? fängt es in der Regel an. Ich sage ja und daß ich Bescheid wüßte: gleich käme noch eine Frage, auf die ich mit ja beantworten können soll und dann noch eine und schon wär ich in der Pfanne. Ich sei aber nicht so blöd wie ein Schnitzel, sage ich, bedanke mich für den Anruf und lege auf.
Ich kann auch kostenpflichtige Servicenummern anrufen. Die hat man eingerichtet, damit man an der steigenden Komplexität des Daseins ordentlich verdienen kann (irgendwer muß ja was davon haben). Aber bei wem wollte man sich darüber beschweren? Früher wußte man zumindest, wo der Gegner sitzt, auch wenn man ihn nicht gleich beim ersten Versuch stellen konnte. Wie Karl Valentin als Buchbinder Wanninger. Er ruft bei der Firma Meisel und Compagnie an, um zu sagen, daß die Bücher jetzt fertig seien und ob er die Rechnung auch gleich ...? Moment, wird er beschieden, ich verbinde ... Und so gelangt er von der Zentrale in diese und jene Abteilung, keiner ist zuständig, jeder leitet ihn weiter und am Ende ist Geschäftsschluss. Rufen's am Montag wieder an. Valentin respektive Wanninger flucht – "Saubande, elendige". Heutzutage lande ich mit meinem Begehren meist bei einer Anrufzentrale, auf Deutsch Callcenter. Das Callcenter zeichnet sich vornehmlich durch folgende Eigenschaften aus: die Menschen dort (bzw. Klone bzw. Computerstimmen) sind freundlich, man spricht nie mit der gleichen Person und man hat keine Ahnung, wo das ganze sich befindet. Alles in allem eine hübsche, ortlose Unerreichbarkeit. Ein Callcenter tut zwar eine Menge dafür, bei seinen Ansprechpartnern aggressive Impulse zu erzeugen, es sorgt aber auch dafür, daß man es nicht erwischen kann. Das nennt man lernende Organisation. Kommt alles aus Asien. Immer lächeln. Immer ausweichen. Und im Falle eines Falles die Lotostechnik: alles abgleiten lassen.
Ich telefoniere mit meiner Krankenkasse. Eine Dame ist am Telefon. Ich frage nach der anderen Dame, deren Name maschinengedruckt unter dem Schreiben steht, das ich dieser Tage erhielt. Nein, die sei gerade im Gespräch. Wie man mir weiterhelfen könne? Ja, und die Frau Sowieso, versuche ich zu insistieren und verfalle auf die kompetente Frage, wer denn für mich zuständig sei. Die Dame wählt als Antwort die Asienstrategien eins, zwei und drei in Kombination. Das sei das Team und im Moment sei sie meine Ansprechpartnerin. Aber wie sie denn wissen könne, was ich mit der Frau Sowieso letztens besprochen habe? Das sehe sie im Computer. Nur im Moment leider nicht, es gebe gerade ein Serverproblem. Ob ich später noch einmal anrufen möchte? Man rufe mich auch gerne zurück. Jaja, mache ich. Meine Frage habe ich ohnehin vergessen. Ich nehme einen Schluck aus der Mineralwasserflasche, die neben mir auf dem Tisch steht. Schaue auf das Etikett. Es sei ein gutes Wasser, sagt sein Name in einer Art verstümmeltem Latein – Bonaqua, aber ohne U. Wahrscheinlich von einem Klon ohne Latinum erdacht. Herkunft? Steht nicht drauf. Aber es ist Wasser drin, sagt die Inhaltsangabe. Und ein eingetragenes Warenzeichen ist es auch. Na bravo. Und von der Firma mit der braunen Zuckerbrause. Sie sind überall. Und sie sind nirgends. So ist das. Wo habe ich diese Flasche bloß gekauft? Ich hab's vergessen. Saubande, elendige. Aus.




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