Lothar Eder, Mannheim (perturbistan@web.de):
Die kosmische Sockensaugmaschine
Etwas zutiefst Rätselhaftes, zugleich Banales und Beunruhigendes
begleitet seit vielen Jahren mein Leben: es ist das Verschwinden
einzelner Socken. Als Paar werden sie von mir erstanden, werden als
solches von mir getragen, nach angemessener Zeit in die Wäschetruhe
verfrachtet und sodann der Waschmaschine und anschließenden
Trockenvorgängen anvertraut, all dies in der – selbstverständlich
anmutenden - Hoffnung auf paarweise Wiederkehr in der Sockenschublade
meiner Kommode. Und dann – welch Enttäuschung: wieder ein einzelner
Socken mehr unter den – vorläufig – vollständigen Sockenpaaren, die
ineinander gestopft jedes für sich eine wohlgestaltete Form ergeben und
scheinbar teilnahmslos in der besagten Kommodenschublade herum liegen.
Scheinbar wie gesagt, so als ob sie nichts wüssten vom Schicksal ihres
Kollegen, so als ob es sie nichts anginge, sie nicht berührte, sie
nicht selbst in Erwartung eben des selben Loses vielleicht für ein paar
letzte Momente ineinander verschlungen so dalägen.
Alle möglichen Überlegungen habe ich angestellt, nicht aus Sparsamkeit,
das Verschwinden einzelner Schuhe etwa wäre wesentlich kostspieliger;
nein, eher aus Prinzip. Es hat mir einfach keine Ruhe gelassen, wie ein
gattungsgleicher Gegenstand über die Jahre hinweg auf immer die selbe
Art und Weise sich scheinbar in Luft auflösen kann. Ich habe das
Verhalten der meine Wäsche versorgenden Putzfrau (Frau Polanska, wir
kommen an anderer Stelle noch auf sie zu sprechen) untersucht, es gab
weder Hinweise auf eine das sonstige Maß überschreitende Nachlässigkeit
beim Umgang mit meinen Socken, noch machte mir eine etwaige gezielte
Bösartigkeit mir gegenüber rechten Sinn. Zudem war das Phänomen auch
schon vor Frau Polanska aufgetreten. Direkt ansprechen wollte ich Frau
Polanska nicht, es wäre mir peinlich gewesen. Die Untersuchung der
Waschmaschine auf ein darin sich befindliches Sockenfresserchen erwies
sich zwar als originelle Hypothese, mehr aber auch nicht.
Selbstversuche – die Socken eigenhändig zur Waschmaschine verbringen,
Beaufsichtigung des Waschvorganges, anschließende Entnahme, Trocknung,
Zusammenfalten und (paarweise) Verbringung in die Sockenschublade
erbrachten einen in jeder Hinsicht unauffälligen Verlauf. Und dann, ein
paar Tage später: wieder ein Sockensingle in meiner Schublade, zum
Haareraufen, unerklärlich, schlichtweg ein Rätsel.
Was blieb mir übrig: ich legte mich auf die Lauer, verbrachte Stunden,
manchmal halbe Tage neben der Kommode, die meine Sockenpaare
beherbergt, saß so da, las oder dachte nach und wartete. Es war dies
eigentlich eine schöne Umgestaltung meines Alltages, brachte eine
gewisse Beschaulichkeit, verlangsamte mein inneres Tempo. Den Warte-
und Beobachtungsbereich richtete ich mir mit der Zeit schön ein,
stattete ihn mit einem Lesesessel und einer Lampe für die Abendstunden
aus, daneben ein Tischchen, auf dem sich mit der Zeit Bücher stapelten.
Ich muss gestehen, es tat mir gut, da zu sitzen, zu warten, zu lesen.
Als ich eben die Anschaffung einer Stereoanlage für meinen
Beobachtungsplatz erwog, geschah es. Lautlos, aus heiterem Himmel, ich
hatte so etwas irgendwann einmal in Erwägung gezogen, dann aber sofort
als außer der Welt wieder verworfen. „Außer der Welt“ ist eigentlich
ein guter Begriff dafür. Aus der Decke oberhalb der Sockenkommode drang
ein Lichtstrahl nach unten, eine Art Schlauch, der zu rotieren anfing
und ein windartiges Geräusch von sich gab. Er bewegte sich auf die
Kommode zu und wie ein Saugrüssel legte sich sein vorderes Ende oben
auf die Kommode. Wenig später sausten zwei, drei Socken im Schlauch
nach oben, wie durch einen mächtigen Sog, und: waren verschwunden. Der
Lichtschlauch legte wieder von der Kommode ab und verschwand, wie er
gekommen war. Zunächst blieb mir nur eine ratlose Reglosigkeit, mein
Buch hielt ich noch in der Hand, die zitterte, und mein Herz klopfte.
Ich ging erst einmal ziellos in der Wohnung umher, überlegte mit
jemandem zu sprechen, entschied mich dagegen. Erst Stunden später wagte
ich mich in die Nähe der Sockenaufbewahrungsstelle, öffnete vorsichtig,
sehr vorsichtig die entscheidende Schublade, begleitet von
Horrorvisionen von abgelegten Alieneiern und ähnlichem Gruselzeug. Es
beruhigte mich ein wenig, drei Sockensingles zu entdecken, von denen
ich sicher war, sie vor einem halben Tag noch verpaart gesehen zu
haben. So war das also. Nun hatte ich zwar eine gute Erklärung, wusste
aber im nächsten Moment, dass ich nicht ernsthaft mit jemandem darüber
sprechen konnte. Gelächter und Spott wären noch das Geringste an
Unannehmlichkeiten, die mich andernfalls erwarteten. Es war klar, ich
musste es für mich behalten, ein kleines, vielmehr großes Geheimnis vor
der Welt.
Was mir fehlte, war die beschauliche Ecke vor der Kommode und die
Stunden der Entspannung, die ich dort verbracht hatte. Nach der
kosmischen Intervention war der Platz dafür nicht mehr geeignet. Ich
habe es ein paar Mal versucht, aber es ging nicht. Zudem hoffte ich
inständig, eine weitere Absaugung möge sich wenn, dann in meiner
Abwesenheit vollziehen. So geschah es. Weitere einzelne Socken
verschwanden, aber nicht in meiner Gegenwart. Das Verhältnis zu Frau
Polanska hat sich deutlich verbessert. Ich hege keinerlei Verdacht mehr
gegen sie, auch nicht bei Vorfällen, für deren Verursachung sie
eigentlich in Frage kommt. Auch die praktische Konsequenz der
Sockenabsaugung, der periodisch notwendige Neuerwerb von Socken, hat in
seiner Atmosphäre spürbare Veränderungen erfahren. Im Kaufhaus, am
Sockenstand, stehen gelegentlich ein, zwei weitere Kaufinteressenten
neben mir und prüfen die Ware. Ich beobachte sie, versuche in ihren
Gesichtern zu lesen. Manchmal glaube ich, einen gewissen verstörten
Ausdruck darin zu entdecken. Dann denke ich, aha, ein Schicksalskollege
und es drängt mich zu fragen: Bei Ihnen ... ähm ... auch? Und ich
wünsche mir von meinem Sockennebenmann einen verschämten Blick zu mir
herüber und dann ein gepresstes Ja. Es würde lange dauern, viele
zufällige Begegnungen am Sockenstand würde es brauchen, bis wir uns zu
einem Kaffee verabreden würden. Erst zögerlich, dann immer schneller
würde es aus uns heraussprudeln, von Socken, der langen Suche nach der
Erklärung und dann dem Saugmaschinenschock. Erst wären wir erleichtert.
Aber dann würden wir uns umsehen im Cafe, ob wir nicht, ohne es gemerkt
zu haben, in einer Psychiatriecafeteria säßen. Aber woran könnten wir
den Unterschied merken? Am ehesten vielleicht am Verhalten des
Personals. Aber wer weiß. Letztendlich ist vielleicht ohnehin alles nur
ein Traum. Aus.
(Erstveröffentlichung in der Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung)
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