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Post aus Perturbistan 3: Die kosmische Sockensaugmaschine
Lothar Eder, Mannheim (perturbistan@web.de):


Die kosmische Sockensaugmaschine

Etwas zutiefst Rätselhaftes, zugleich Banales und Beunruhigendes begleitet seit vielen Jahren mein Leben: es ist das Verschwinden einzelner Socken. Als Paar werden sie von mir erstanden, werden als solches von mir getragen, nach angemessener Zeit in die Wäschetruhe verfrachtet und sodann der Waschmaschine und anschließenden Trockenvorgängen anvertraut, all dies in der – selbstverständlich anmutenden - Hoffnung auf paarweise Wiederkehr in der Sockenschublade meiner Kommode. Und dann – welch Enttäuschung: wieder ein einzelner Socken mehr unter den – vorläufig – vollständigen Sockenpaaren, die ineinander gestopft jedes für sich eine wohlgestaltete Form ergeben und scheinbar teilnahmslos in der besagten Kommodenschublade herum liegen. Scheinbar wie gesagt, so als ob sie nichts wüssten vom Schicksal ihres Kollegen, so als ob es sie nichts anginge, sie nicht berührte, sie nicht selbst in Erwartung eben des selben Loses vielleicht für ein paar letzte Momente ineinander verschlungen so dalägen.
Alle möglichen Überlegungen habe ich angestellt, nicht aus Sparsamkeit, das Verschwinden einzelner Schuhe etwa wäre wesentlich kostspieliger; nein, eher aus Prinzip. Es hat mir einfach keine Ruhe gelassen, wie ein gattungsgleicher Gegenstand über die Jahre hinweg auf immer die selbe Art und Weise sich scheinbar in Luft auflösen kann. Ich habe das Verhalten der meine Wäsche versorgenden Putzfrau (Frau Polanska, wir kommen an anderer Stelle noch auf sie zu sprechen) untersucht, es gab weder Hinweise auf eine das sonstige Maß überschreitende Nachlässigkeit beim Umgang mit meinen Socken, noch machte mir eine etwaige gezielte Bösartigkeit mir gegenüber rechten Sinn. Zudem war das Phänomen auch schon vor Frau Polanska aufgetreten. Direkt ansprechen wollte ich Frau Polanska nicht, es wäre mir peinlich gewesen. Die Untersuchung der Waschmaschine auf ein darin sich befindliches Sockenfresserchen erwies sich zwar als originelle Hypothese, mehr aber auch nicht. Selbstversuche – die Socken eigenhändig zur Waschmaschine verbringen, Beaufsichtigung des Waschvorganges, anschließende Entnahme, Trocknung, Zusammenfalten und (paarweise) Verbringung in die Sockenschublade erbrachten einen in jeder Hinsicht unauffälligen Verlauf. Und dann, ein paar Tage später: wieder ein Sockensingle in meiner Schublade, zum Haareraufen, unerklärlich, schlichtweg ein Rätsel.
Was blieb mir übrig: ich legte mich auf die Lauer, verbrachte Stunden, manchmal halbe Tage neben der Kommode, die meine Sockenpaare beherbergt, saß so da, las oder dachte nach und wartete. Es war dies eigentlich eine schöne Umgestaltung meines Alltages, brachte eine gewisse Beschaulichkeit, verlangsamte mein inneres Tempo. Den Warte- und Beobachtungsbereich richtete ich mir mit der Zeit schön ein, stattete ihn mit einem Lesesessel und einer Lampe für die Abendstunden aus, daneben ein Tischchen, auf dem sich mit der Zeit Bücher stapelten. Ich muss gestehen, es tat mir gut, da zu sitzen, zu warten, zu lesen.
Als ich eben die Anschaffung einer Stereoanlage für meinen Beobachtungsplatz erwog, geschah es. Lautlos, aus heiterem Himmel, ich hatte so etwas irgendwann einmal in Erwägung gezogen, dann aber sofort als außer der Welt wieder verworfen. „Außer der Welt“ ist eigentlich ein guter Begriff dafür. Aus der Decke oberhalb der Sockenkommode drang ein Lichtstrahl nach unten, eine Art Schlauch, der zu rotieren anfing und ein windartiges Geräusch von sich gab. Er bewegte sich auf die Kommode zu und wie ein Saugrüssel legte sich sein vorderes Ende oben auf die Kommode. Wenig später sausten zwei, drei Socken im Schlauch nach oben, wie durch einen mächtigen Sog, und: waren verschwunden. Der Lichtschlauch legte wieder von der Kommode ab und verschwand, wie er gekommen war. Zunächst blieb mir nur eine ratlose Reglosigkeit, mein Buch hielt ich noch in der Hand, die zitterte, und mein Herz klopfte. Ich ging erst einmal ziellos in der Wohnung umher, überlegte mit jemandem zu sprechen, entschied mich dagegen. Erst Stunden später wagte ich mich in die Nähe der Sockenaufbewahrungsstelle, öffnete vorsichtig, sehr vorsichtig die entscheidende Schublade, begleitet von Horrorvisionen von abgelegten Alieneiern und ähnlichem Gruselzeug. Es beruhigte mich ein wenig, drei Sockensingles zu entdecken, von denen ich sicher war, sie vor einem halben Tag noch verpaart gesehen zu haben. So war das also. Nun hatte ich zwar eine gute Erklärung, wusste aber im nächsten Moment, dass ich nicht ernsthaft mit jemandem darüber sprechen konnte. Gelächter und Spott wären noch das Geringste an Unannehmlichkeiten, die mich andernfalls erwarteten. Es war klar, ich musste es für mich behalten, ein kleines, vielmehr großes Geheimnis vor der Welt.

Was mir fehlte, war die beschauliche Ecke vor der Kommode und die Stunden der Entspannung, die ich dort verbracht hatte. Nach der kosmischen Intervention war der Platz dafür nicht mehr geeignet. Ich habe es ein paar Mal versucht, aber es ging nicht. Zudem hoffte ich inständig, eine weitere Absaugung möge sich wenn, dann in meiner Abwesenheit vollziehen. So geschah es. Weitere einzelne Socken verschwanden, aber nicht in meiner Gegenwart. Das Verhältnis zu Frau Polanska hat sich deutlich verbessert. Ich hege keinerlei Verdacht mehr gegen sie, auch nicht bei Vorfällen, für deren Verursachung sie eigentlich in Frage kommt. Auch die praktische Konsequenz der Sockenabsaugung, der periodisch notwendige Neuerwerb von Socken, hat in seiner Atmosphäre spürbare Veränderungen erfahren. Im Kaufhaus, am Sockenstand, stehen gelegentlich ein, zwei weitere Kaufinteressenten neben mir und prüfen die Ware. Ich beobachte sie, versuche in ihren Gesichtern zu lesen. Manchmal glaube ich, einen gewissen verstörten Ausdruck darin zu entdecken. Dann denke ich, aha, ein Schicksalskollege und es drängt mich zu fragen: Bei Ihnen ... ähm ... auch? Und ich wünsche mir von meinem Sockennebenmann einen verschämten Blick zu mir herüber und dann ein gepresstes Ja. Es würde lange dauern, viele zufällige Begegnungen am Sockenstand würde es brauchen, bis wir uns zu einem Kaffee verabreden würden. Erst zögerlich, dann immer schneller würde es aus uns heraussprudeln, von Socken, der langen Suche nach der Erklärung und dann dem Saugmaschinenschock. Erst wären wir erleichtert. Aber dann würden wir uns umsehen im Cafe, ob wir nicht, ohne es gemerkt zu haben, in einer Psychiatriecafeteria säßen. Aber woran könnten wir den Unterschied merken? Am ehesten vielleicht am Verhalten des Personals. Aber wer weiß. Letztendlich ist vielleicht ohnehin alles nur ein Traum. Aus.

(Erstveröffentlichung in der Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung)



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