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Fritz B. Simon: Nachruf auf Ernst von Glasersfeld: 8.3.1917-12.11.2010
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Fritz B. Simon: Ernst von Glasersfeld – Ein Nachruf
Am 12. November 2010 starb Ernst von Glasersfeld.
Unter den Vordenkern des Konstruktivismus, wie er heute die Diskussion in „systemisch“ und/oder „konstruktivistisch“ bezeichneten Praxisfeldern – von der Therapie und Sozialarbeit über die Organisationsberatung bis hin zum Management - bestimmt, ist er wahrscheinlich der unbekannteste. Dies
mag verwunderlich erscheinen, denn nicht nur der Begriff „Radikaler
Konstruktivismus“, sondern auch einige seiner Schlüsselkonzepte sind Ernst von
Glasersfeld zu verdanken. Dass dies so ist, dürfte auch an den von ihm
(mit-)gestalteten Theorieentwürfen liegen, oder anders gesagt: Er hat seine
Theorien, die jeden absoluten Wahrheitsanspruch in Frage stellen, auch personifiziert. So hat er weder für seine Ansätze missioniert noch andere Modelle aggressiv bekämpft. Argumentationen und rationaler Auseinandersetzung hat er sich immer gern gestellt, aber er war nie ein Eiferer, der Jünger um sich schart und Fangemeinden pflegt, kein
Schulengründer. Diese persönliche Bescheidenheit und Zurückhaltung hat ihn als „Erfinder“
eines von ihm selbst als „radikal“ bezeichneten Konstruktivismus nicht vor
vielen Gegnern bewahrt, die diesen Konstruktivismus als „zu radikal“ erlebten.
von Glasersfeld wuchs mehrsprachig auf und
hatte, wie er selbst sagte, im Gegensatz zu den meisten anderen Menschen nicht
nur eine Muttersprache, in der er bzw.
sein Weltbild verwurzelt gewesen wäre. Hier mag bereits in seiner Kindheit – in
Meran/Südtirol – die Wurzel seiner späteren Forschungen gelegt worden sein. Unterschiedliche
Sprachen vollziehen unterschiedliche Unterscheidungen und Abstraktionen,
kreieren nicht miteinander übereinstimmende Einheiten, Objekte, Ganzheiten,
Kategorien. Und daraus resultiert eine unterschiedliche Ordnung der Welt, eine
widersprüchliche Logik von Prozessen, von Kausalitäten. Dies konnte von Glasersfeld
von Kind an beobachten. Was in einer globalisierten Welt nicht mehr so selten
ist, ein Wechsel der kulturellen Kontexte, erfuhr von Glasersfeld schon als
Jugendlicher, der, in München geboren, mit österreichischen Eltern und
tschechischem Pass in Italien lebte und in der Schweiz in die Schule ging. Er
begann in Zürich und dann in Wien zu studieren (Mathematik). Während eines Jobs
als Skilehrer in Australien lernte er seine spätere Frau, eine Engländerin, die
in Paris lebte, kennen. Den Zweiten Weltkrieg überstand er als Farmer in Irland. Danach kehrte er nach
Meran zurück, wo er – mehr durch Zufall als durch Bemühung – eine Stelle als Leiter
des Kulturressorts der örtlichen Zeitung (Der
Standpunkt) bekam (seine erste Arbeit
war übrigens ein Nachruf). Später wurde er dann Korrespondent der Zürcher Weltwoche und anderer ausländischer
Zeitungen. Seine Themen waren Autorennen, Mode, etruskische Ausgrabungen sowie
Film- und Theaterkritiken.
Mitte der 50er Jahre zog es ihn in die
Arbeitsgruppe von Silvio Ceccato, einem der ersten Vertreter der Kybernetik in
Italien und Begründer der Scuola
Operativa Italiana. Dessen beruflicher Lebensweg war nicht weniger
unkonventionell als der von Glasersfelds. Er war promovierter Jurist, hatte
Violoncello und Komposition studiert und widmete sich mit seine Arbeitsgruppe der
Untersuchung kognitiver Operationen, vor
allem linguistischer und semantischer Probleme sowie der Möglichkeit der Sprach-Übersetzung
durch Maschinen.
Mitte der 60er Jahre ging von Glasersfeld in
die USA, da die Air Force ihm ein Forschungsprojekt zur Satzanalyse angeboten
hatte. Von 1970 bis 1987 lehrte und forschte er an der Universität von Athens,
Georgia, im Fach Kognitive Psychologie. Den linguistischen Faden spann er in
einem primatologischen Projekt fort, in dem er eine Grammatik für die
Kommunikation mit Schimpansen erfand. Später – nachdem er die Arbeiten Jean
Piagets entdeckt hatte – beschäftigte er sich mit der Entwicklung des
Zahlenbegriffs bei Kindern. Seine wissenschaftliche Tätigkeit setzte er nach
seiner Emeritierung in Amherst/Massachussetts im Bereich der pädagogischen
Psychologie fort.
Befragt, was seine eigene Entwicklung bzw.
die seiner Konzepte geprägt hat, so sah er sich ein einer langen Tradition.
Konstruktivistisches Denken bestimmte schon die Arbeiten der Vorsokratiker,
Giambatista Vico und Immanuel Kant können ebenfalls als Vordenker des
Konstruktivsmus gesehen werden, und Jean Piaget war derjenige, der die
umfangreichsten empirischen Untersuchungen dazu vorgenommen hat.
Was sicher als von Glasersfelds Verdienst
angesehen werden kann, ist die Radikalisierung der Konstruktionsidee. Wo
andere, ebenfalls konstruktivistisch argumentierende Autoren an der Vorstellung
festhielten, die vom Beobachter konstruierten Bilder der Welt könnten sich
ihrem Gegenstand annähern, und dem Ideal folgten, die Ähnlichkeit des Abbildes
zum Abgebildeten immer mehr zu vervollkommnen, verwarf von Glasersfeld die
Annahme, Erkenntnis und Erkanntes müssten überhaupt irgendeine Übereinstimmung
haben. Er sah das individuelle Weltbild immer nur als Mittel zum Zweck des
Handelns. Deshalb kam es nie auf Repräsentation an, sondern auf „Viabilität“
(„Gangbarkeit“ wie in „es geht“, „es funktioniert“ oder „es könnte auch anders
gehen“). Die Landkarte muss keine Ähnlichkeit mit der Landschaft haben, aber
man muss sich mit ihrer Hilfe so orientieren können, dass man zu seinem Ziel
kommt, ohne gegen irgendwelche Hindernisse zu stoßen.
Bewusstsein ist für ihn deshalb nicht
unbedingt an Sprache gebunden, denn die senso-motorischen Schemata, die
bewusstes Handeln ermöglichen, werden schon vor dem Spracherwerb gebildet.
Imitation ist hier eines der wichtigsten gestaltenden Momente. Schon als junger
Skilehrer in den Alpen hatte er gesehen, dass man sagen konnte, wer der
Skilehrer war, wenn man die Skischüler beobachtete…
Die Forschungsarbeiten von Glasersfelds sind
zum großen Teil nur Spezialisten bekannt, so dass seine Bekanntheit und
Prominenz erklärungsbedürftig ist. Sie hat sicher mit der Zeit bzw. dem Geist
der80er Jahre des vorigen
Jahrhunderts zu tun. Denn auch Autoren wie Heinz von Foerster, Humberto Maturana
und Francisco Varela wurden damals zu so etwas wie intellektuellen Popstars.
Sie alle hatten – das sei hier ausdrücklich betont – in ihren eigenen
Fachdisziplineneher randständige
Positionen. Denn die Main-Stream-Wissenschaften basierten auf Prämissen des
Realismus. Jeder Ansatz, der den Beobachter in den Mittelpunkt stellte und
davon ausging, dass es nicht nur ein einziges, absolutes, objektives und
möglichst richtiges Bild der Welt geben sollte bzw. gibt,verstieß damit gegen den Wahrheits- und
Machtanspruch der Wissenschaften.
Einer größeren Öffentlichkeit bekannt gemacht
wurden die genannten, ihre Theorienauf den Beobachter bzw. die Operation der Beobachtung gründenden
Forscher und Forschungen von Praktikern mit einem hohen Theorie- und
Reflexionsbedürfnis: An erster Stelle sind hier Psychotherapeuten, speziell
Familientherapeuten zu nennen. Sie hatten sich zu der Zeit in ihren Methoden
gelöst von den ausgetretenen Faden ihrer Profession. Denn die führten nicht
unbedingt zum Ziel. Man konnte Psychotiker nicht auf die Couch legen, um ihre Träume
zu analysieren. Ja, die identifizierten Patienten hatten oft nicht im
geringsten das Bedürfnis, sich in Therapie zu begeben. Der Leidensdruck, der
Voraussetzung für eine Therapie ist, lag oft bei den Angehörigen. Konfrontiert
mit den Kommunikationsmustern der Familie stellte sich die Frage nach der
„Passung“ der individuellen Bilder der Familie und der familiären Interaktionsformen.
Eine Erkenntnistheorie, die nicht
davon ausging, dass es eine richtige,
einzig wahre Beschreibung der Familie und ihrer Spielregeln gibt, sondern von
jeweils unterschiedlichem Erleben, unterschiedlichen Erfahrungen der
Familienmitglieder, war hilfreich. Und diese Theorie lieferten die genannten
Autoren. Sie wurden gewissermaßen
adoptiert.
In den 80er und 90er Jahren wurde Ernst von
Glasersfeld weltweit auf Dutzende von Kongressen zu Themen der systemischen
Therapie, aber auch der Organisationsberatung, des Management und der Pädagogik
eingeladen. Er nahm diese Einladungen an, berichtete freundlich von seinen Forschungen,
schien immer etwas überrascht über das Interesse und wirkte dabei stets ein
wenig distanziert und, ja, vielleicht sogar desinteressiert. Er nahm sich wie
auch derartige Veranstaltungen offenbar nicht sehr wichtig. Das hielt ihn aber
nicht davon ab, sich konkreten Menschen sehr aufmerksam zuzuwenden (z.B. Kindern,
wenn man ihn zu sich nach Hause einlud).
Ernst von Glasersfeld wurde 93 Jahre alt.
Literatur:
Foerster, Heinz von, Ernst von Glasersfeld (1999): Wie wir uns erfinden. Eine
Autobiografie des radikalen Konstruktivismus. Heidelberg (Carl-Auer-Verlag).
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