Heiko Kleve: Das Ende des Konstruierens und das Konstruieren des Endes. Nachruf zum Tod von Prof. Dr. Heinz J. Kersting
Nicht nur der radikale Konstruktivist Ernst von Glaserfeld (1), sondern bereits der kritische Rationalist Karl R. Popper (2) wusste, dass wir mit der Realität erst dann Kontakt bekommen, wenn unsere bisherigen Konstruktionen scheitern, wenn wir nicht mehr so weitermachen können wie bisher. Der Tod eines Menschen ist für die Hinterbliebenen ein solcher Realitätskontakt. Er führt dazu, dass sich die Realität offenbart. Allerdings ist diese Offenbarung keine, die mit unserem Netz von Unterscheidungen, mit unseren vielfältigen Beschreibungs-, Erklärungs- und Bewertungsmöglichkeiten eingefangen werden kann. Die Erfahrung des Todes führt nicht nur bei denen, die unsere Welt verlassen, sondern auch bei denen, die zurück bleiben, zu einem Ende des Konstruierens. Natürlich geht – wie man so schön sagt – für die Hinterbliebenen das Leben weiter. Schließlich muss auch das Ende des geliebten Menschen psychisch und sozial (aktiv) konstruiert, verarbeitet werden. Aber für einen kurzen oder auch längeren Moment bleibt die Welt des Konstruierens stehen – mit Carlos Castaneda gesprochen (3): hält die Welt an. Wenn die Welt anhält, dann ist „die Realität des alltäglichen Lebens verändert [...], weil der Strom der Interpretationen, der für gewöhnlich ununterbrochen fließt, durch [...] Umstände unterbrochen ist“. (4) Ein solcher Umstand ist der Tod. Der Tod von Prof. Dr. Heinz J. Kersting am Morgen des 4. Dezember 2005 bedeutete für sehr viele Menschen ein Anhalten der Welt, ein Ende des bisherigen Konstruierens, er führte zum Stehen bleiben des Interpretierens, weil zunächst nicht vorstellbar ist, wie eine Welt weitergehen kann ohne diesen vielfältigen, begeisterten und begeisternden, klugen, weisen und ironischen Freund und Kollegen, Wissenschaftler und Professor, Verleger, Supervisor, Balint-Gruppenleiter, Erwachsenenbildner und Institutsleiter. Heinz J. Kersting hat mit einer schier unermesslichen Anzahl von Menschen soziale Wirklichkeiten konstruiert, die nachhaltige Folgen hatten. Er war ein Beispiel für die positive Seite dessen, was Kenneth J. Gergen Das übersättigte Selbst nennt (5) Ein Mensch, der die Möglichkeiten der (post)modernen Kommunikationstechnologie radikal ausnutzend mit einer Vielzahl von unterschiedlichsten Menschen soziale Beziehungen pflegte, die ihn und diese Menschen formten und prägten. Heinz J. Kersting war nicht nur prägend und formend für mehrere Generationen von Supervisor/innen, Sozialarbeiter/innen und Wissenschaftler/innen in den psycho-sozialen Feldern, er hat sich von diesen auch prägen und formen lassen. Denn er war wahrhaft dialogisch orientiert. Wer in solchen eng verstrickten Netzen direkter und indirekter Interaktion wie Heinz einen Knotenpunkt bildete, dem bleibt eigentlich gar nichts anderes übrig, als Konstruktivist zu werden. Der Konstruktivismus ist die Erkenntnistheorie, ja die Lebens- und Daseinsform für all jene, die erkennen, dass ihre Sichtweisen, Interpretationen, kurz: ihre Unterscheidungen Produkte ihres Dialogisierens mit anderen sind und dass diese beteiligten Anderen jedoch nicht zu den gleichen Unterscheidungen kommen müssen, sondern dass gerade die Differenz in den Unterscheidungen die Dialoge vorwärts treibt, sie interessant, spannend, ja vor allem erkenntnisfördernd macht. Heinz Kersting war ein solcher Konstruktivist. Sicher ist es nicht übertrieben zu sagen: Er war der Konstruktivist der Supervision und Sozialarbeit. Seine wissenschaftliche Karriere begann Anfang der 1970er Jahre als er das Priesteramt verließ, um insbesondere die Erwachsenenbildung, die Sozialarbeit und die Supervision mit kommunikationstheoretischen, systemischen und schließlich konstruktivistischen Reflexionen voran zu bringen. (6) Die konstruktivistische Epistemologie wurde schließlich zum wissenschaftlichen Heimatland von Heinz Kersting. Denn er betrieb nicht nur konstruktivistische Wissenschaft, er verkörperte diese vielmehr. Wer ihn kannte, der weiß, was das heißt. Aber auch jene, die ihn ausschließlich lesen konnten und in Zukunft noch lesen werden, erkennen in seinen vielen Publikationen sehr schnell, dass hier zugleich Praxis aufscheinen. Gerade daher waren seine Bücher und Artikel Nahrung für viele, die sahen, welche Potentiale in einer erlebten und immer noch erleben: einen dramatischen Wandel der Gesellschaft, der sich vor allem durch den Verlust traditioneller Gewissheiten auszeichnet. Wie kaum ein anderer hat Heinz Kersting die Sozialarbeits- und Supervisionsszene seit den 1980er Jahre mit dem äußerst brauchbaren Virus des Konstruktivismus infiziert. Er war einer von den ersten, die gesehen haben, welche Potentiale in konstruktivistischen Reflexionen liegen und konnte diese Erkenntnis leidenschaftlich und äußerst ansteckend der Welt verkünden. Dabei blieb er jedoch immer bescheiden, erwartete nicht, dass man seine Ansichten teilte, geschweige denn den Konstruktivismus selbst übernahm.
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Für all jene, die sich eng (wie ich) mit Heinz Kersting verbunden fühlten, mit dem Menschen und dem Wissenschaftler, geht die Welt nach dem Tode dieses bedeutenden Lehrers und Forschers völlig anders als vorher weiter. Jedes Anhalten der Welt führt zu einer qualitativen, aber noch unvorhersehbaren Veränderung aller weiteren Unterscheidungen. Eines dürfte jedoch klar sein: Das, was Heinz für uns war, ist niemals ersetzbar. Wünschen wir Heinz Kersting, das sein christlicher Glaube, der in den letzten Monaten seines Lebens wieder stärker zu Tage trat, so in Erfüllung geht, dass der Tod nicht nur ein Ende und eine Befreiung ist, sondern einen Ausweg aus den zirkulären Netzen der Selbstreferenz weist und dauerhaft die Realität entblößt, die sich jenseits des Unterscheidbaren verbirgt:
Solang du Selbstgeworfnes fängst, ist alles Geschicklichkeit und läßlicher Gewinn –; erst wenn du plötzlich Fänger wirst des Balles, den eine ewige Mitspielerin dir zuwarf, deiner Mitte, in genau gekonntem Schwung, in einem jener Bögen aus Gottes großem Brückenbau: erst dann ist Fangen-können ein Vermögen – nicht deines, einer Welt. Rainer Maria Rilke
(1) Vgl. ders. (1981): Einführung in den radikalen Konstruktivismus, in: Paul Watzlawick (Hrsg.): Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Beiträge zum Konstruktivismus. München: Piper, S. 16-38. (2) Vgl. etwa ders. (1974): Ausgangspunkte. Meine intellektuelle Entwicklung. München: Piper (2004). (3) Vgl. ders. (1972): Reise nach Ixtlan: Die Lehre des Don Juan. Frankfurt/M.: S. Fischer (1975). (4) Ebd., S. 12f. (5) Vgl. ders. (1991): a.a.O. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme (1996). (6) Vgl. ausführlich dazu Heiko Kleve (1997): Supervision, Sozialarbeit(swissenschaft) und Konstruktivismus. Die äußerst brauchbare Synthese des Heinz Kersting, in: Fest & SpigelSchrift, zusammengestellt für Heinz J. Kersting zum 60. Geburtstag. Aachen: Kersting, S. 15-37; auch in: Heinz Kersting (2002): Zirkelzeichen. Supervision als konstruktivistische Beratung. Aachen (Kersting), S: 287-311.
Heinz Kersting. Nachruf von Hans-Christoph Vogel (15.12.2005)
Es fällt mir nicht leicht, so kurz nach dem Ausscheiden von Heinz Kersting die Welt in ein Vorher und Nachher bzw. einen Anfang und ein Ende zu trennen. Er selbst hat bis zum Schluss, und gerade zum Schluss, den Augenblick gelebt, das Angefangene zu Ende geführt. Das Jetzt reichte für die Kommunikation. Allenfalls die Voraussicht wurde schmaler und leiser. Wer sich über die Publikationen und Schriften, die Berichte über Forschungsprojekte, über Begleitforschung oder Entwürfe für Curricula informieren will, findet dazu umfangreiche Hinweise auf der Homepage von Heinz Kersting. Er versteckte sich nicht hinter Berichten an die Förderer bzw. Geldgeber, sondern er setzte sie ein, arbeitete mit den Erkenntnissen und gab nicht eher Ruhe, bis sich die Modellprojekte in die Realität veränderter Lernweisen, neuer didaktischer Formen oder in die Gestalt „systemischer Interventionen“ verwandelten (s. dazu die Übersicht über die „Forschungs- und Entwicklungsprojekte“). Anders als im Falle so mancher Forschungsprojekte, wanderten diese Produkte nicht in den Archiven der Auftraggeber, sondern im Hörsaal, in der Projektarbeit, in der Supervision oder Organisationsentwicklung. Sie wurden nicht als Optionen „vorgeführt“, sondern im Prozess der Vermittlung oder Beratung auf ihre Brauchbarkeit geprüft – dabei häufig in einer eigenen Form, die anknüpfte an „verwandte“ Formen, Erfahrungen oder Methodiken, die aber zugleich provozierte und „liebevoll“ verwirrte. Heinz Kersting war und bleibt ein Störer comme il faut, ein liebevoller und lauter, ein deutlicher und konsequenter, vor allem dann, wenn die Ordnung mit einer Unterordnung verbunden war. Nichts konnte ihn mehr aufrühren als eine diffuse Zweideutigkeit: „Draw a distinction … und du wirst sehen“, das war die Devise, die ihm passte. Aber wenn er so auffordernd sprach, sprach er häufig im Dialekt bzw. wenigstens in einer Sprache, die jeder verstand (vor allem aus dem Aachener Raum). Ein System, das hatte er in der Auseinandersetzung mit „Autoritäten“ gelernt, muss deutliche Grenzen zu seiner Umwelt ziehen, kann sich selbst nur sehen und erkennen, wenn es sich aus einer Umwelt ausgrenzt und sich selbst dabei eingrenzt (that´s me!). Heinz hatte es selbst gelernt in den eigenen Auseinandersetzungen mit „Autoritäten“. Umso mehr ermutigte ihn diese Erfahrung, sie an seine „Schüler“ weiterzugeben, d.h. sie nicht allein verbal zu animieren, sondern sie im Sinne eines Zweiten Futurs das „Master-Gewand“ anzulegen, die Autorenschaft einer Publikation oder eine entscheidende Rolle in Gremien und Ausschüssen zu übernehmen. Wir können eine solche, zunächst unwahrscheinlich erscheinende Entwicklung eines lokalen zu einem grenzüberschreitenden Institut (siehe das umfangreiche Tempusprojekt „Sweel“ in Ungarn und Spanien), von einem Institut der Sozialen Arbeit und Pädagogik zu einem „Forschungs- und Entwicklungs-Institut“, das sich mit Fortbildungsfragen, Schulsozialarbeit, Supervision, Selbsthilfe im Gesundheits- und Sozialbereich, Organisationsentwicklung und Sozialmanagement befasst, auf der Homepage des Instituts ablesen. Doch es ist nicht die „grenzüberschreitende“ Weite allein, nicht die „ent-fachte Beobachtung“, mit der sich Heinz Kersting befasste, und die das Institut heute ausmacht. Die sichtbare Selektion der Beiträge, die Abgrenzung von anderen Diskussionsgruppen und Publikationen, die Sprache der Publikationen, die Formen der Kommunikation unter den Beteiligten, die Parteinahmen für aktuelle Entwicklungen im Gemeinwesen und im politischenUmfeld lassen ein unverwechselbares Institut erkennen, eben das: „IBS“. Dabei hat – so der Beobachter – die Vaterfigur unseres Heinz Kersting eine wesentliche Rollegespielt. Aber Heinz würde sofort entgegen: „Das sind wir, und uns gibt es nur einmal!“ (Heinz im Original).
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