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Nachruf auf Tom Andersen (2.6.1936-15.5.2007)

Tom Andersen

Michael Schlicksbier-Hepp, Wilhelmshaven:


Prof. Dr. med. Tom Andersen (2.6.1936-15.5.2007), ein in systemischen Therapeutenkreisen weltbekannter norwegischer Sozialpsychiater und Psychotherapeut der nordnorwegischen sozialpsychiatrischen Fakultät in Tromsö, ist am 15.5.2007 kurz vor Erreichen seines 71. Lebensjahres verstorben. Ich kannte ihn als beeindruckenden Vortragenden und Lehrer von einigen Workshops, die wir in unserer Klinik veranstaltet haben. Seine besondere Art des konzentrierten Zuhörens strahlte eine warme Präsenz sowohl für seine Klienten wie für seine Mitarbeiter aus. Mit absoluter Aufmerksamkeit hörte er auf das gesprochene Wort und beobachtete er auch die nonverbalen Botschaften, die Haltungen und die Anspannung der Mimik. Er bezog sich im Gespräch mit den Klienten und in der Reflektion des Gespräches mit Kollegen vor den Klienten stets auf das, was gesagt wurde und verzichtete auf die Ausbreitung von Spekulationen, die den Klienten zum Objekt machten. So waren ihm psychiatrische Diagnosen auch sehr suspekt und er warnte vor ihren eingrenzenden und verstümmelnden Auswirkungen. Stattdessen ermutigte er seine Gesprächspartner durch taktvolle, aber auch nahegehende Fragen, die ihnen wichtigen Gefühle, Erlebnisse und Bedürfnisse in Worte zu fassen und mit ihm über ihre Bedeutung dieser Wort zu sprechen.

Tom Andersen entwickelte eine besondere Idee eines so genannten Reflektierenden Teams (Reflecting Team), das seit den 90er Jahren zu einem wichtigen Instrumentarium systemisch therapeutischer Gesprächsführung wurde, was aber nur bedingt im Sinne Tom Andersens war, weil er sich alsbald wieder von relativ starren Formalien dieser Idee, die ihr eine Art Methoden- oder Werkzeugcharakter gaben, entfernte und die Grundgedanken in viele reflektierende Prozesse einfließen ließ. Ihm ging es mehr und mehr um die Haltung und weniger um das akurate Setting. Das Grundmodell war das von einem Team von Zuhörern begleitete Klientengespräch, das zu einem gewissen Zeitpunkt einmal oder auch mehrmals unterbrochen wurde, um einem reflektierenden Gespräch der Beobachter über das Gehörte Raum zu geben, während Klient(en) und Interviewer diesem Gespräch lauschen konnten.

Ein Ziel dieses Gesprächsprozesses war, die Vielstimmigkeit, die selbst dann gegeben ist, wenn sich nur zwei z.B. auch über Dritte unterhalten, zu Wort kommen zu lassen und in den Prozess einfließen zu lassen. Neben der Möglichkeit, dadurch einen Sachverhalt, eine Beziehung, eine Entwicklung von verschiedenen Standpunkten und Blickwinkeln aus zu beleuchten und zu verstehen, ergab sich durch die Wiedergabe der ausgesprochenen Gedanken des Klienten durch die reflektierenden Zuhörer auch eine Chance zu einer Neuordnung durch neue Reaktionen auf das (wieder) Gehörte: Zwar hielten sich die Beobachter der Zuhörergruppe eng an das gehörte Gespräch und die vernommenen Worte, doch konnten sie daran orientiert und ohne all zu große Metaspekulationen (z.B. über das, was sie eben nicht gehört haben) eigene Gedanken ihres inneren Dialoges der Reflektion des gehörten äußeren Dialoges hinzufügen.

Diese Gedanken, letztlich die Reflektionen also, sollten nach Tom Andersen einerseits erkennbar bezogen auf das Gesagte und als Ideen genügend ähnlich sein, um adapiert werden zu können und doch auch schon so nuanciert und gewandelt, dass sie einen Keim zu einer neuen Betrachtung beinhalten konnten. Doch galten diese Beiträge immer nur als Varianten und Vorschläge, nicht als Verordnungen oder Interventionen, wie es zu Beginn der systemischen Familientherapie oft Mode war. Die professionellen Gesprächspartner, Ärzte, Therapeuten und Berater spielten sich nicht als die besserwissenden Experten auf, die die herausgefragten Äußerungen des "Patienten" nur als Versatzstücke zur Untermauerung einer alsbald gefundenen Diagnose entsprechend psychopathologischer Theoriekonstrukte mißbrauchten. Dieser Expertentypus hörte somit immer das, was der Laie, der Patient nicht sagte und beschäftigte sich mehr mit seinen eigenen Konstrukten. Tom Andersen forderte hingegen seine Gesprächspartner auf, die vorgetragenen Reflektionen zu reflektieren und hervorzuheben, was ihnen stimmig und brauchbar erschienen ist oder was sie ablehnten. Die Korrektur nahm der Klient vor, nicht der professionelle Interviewer. Der Klient korrigierte den Profi, statt dass der Psychiater den Patienten über seine "Krankheit" belehrte und "Krankheitseinsicht" und "Therapiecompliance" als Schlüssel zur Heilung verlangte, den der Experte in der Hand behielt.

Tom Andersen ließ sich von Beobachtungen der Arbeit einer sehr erfahrenen und in Norwegen inzwischen auch zu Berühmtheit gelangten Physiotherapeutin, Aadel Bülow-Hansen, die er öfter in seinen Workshops erwähnte, inspirieren. Die Muskulatur beugt oder streckt ein Gelenk und die aktive Kontraktion auf der einen Seite wird von der passiven Dehnung auf der anderen Seite komplettiert. Dasselbe passiert bei der aktiven Einatmung und der (in der Regel) passiven Ausatmung. Die Beugemuskeln reagieren stark bei emotionaler Anspannung. Dies kann psychosomatisch bis zu Kontrakturen voranschreiten. Tom Andersen beobachtete bestimmte Entsprechungen zwischen der körperlich-materiellen Ebene und der psychomentalen Ebene. Er beobachtete, dass bestimmte Griffe bei der Behandlung einer Muskelkontraktion einen bestimmten, aber noch erträglichen Schmerz auslösten, der eine Einatmung des Behandelten stimulierte. Die Entspannung äußert sich dann mit dem Beginn der Ausatmungsphase. In einem Bericht über Tom Andersons Arbeit heißt es dazu: "When feelings become too overwhelming, bending muscles become dominant. When a physiotherapist grabs a retracted muscle and squeezes it, this [pain] produces inhalation. If the exhalation comes as a sigh, it's a good thing in psychotherapy, our questions are like a pain-producing hand", he says. If they are not unusual enough, they produce no pain. If they are to unusual, they stop the conversation. But if they are unusual enough, they produce an inhalation which is followed by an exhalation, an expression, that can be healing."

Diese Art der Unterhaltung, die das Schmerzhafte nicht aussparte und doch auf die Zumutung unangemessener Provokationen und Unerträgliches verzichtete, verlangte eine besondere Form von Wertschätzung und authentischem Respekt für die Person, die Gedanken und die Worte des Klienten, die nicht mehr zum Steinbruch für die eigenen "autistischen Gedankenverirrungen" eines abgekoppelten inneren psychiatrischen Dialoges werden konnten und durften. Da man mit dem Klienten sprach, vor ihm reflektierte und sich anschließend der Rückmeldung und Auswertung des Klienten stellte, war es selbstverständlich, dass man respektvoll und wertschätzend sprach und folglich auch dachte. Die Einzigartigkeit des Dialoges, die Schöpfung des Augenblickes gelangte im Sinne des konstruktionistischen Denkens in den Mittelpunkt der Betrachtung und nicht eine anamnestische Geschichte, die durch die Art, wie Psychiater und Psychologen sie zuweilen noch aus ihren Patienten herausfragen, eine Art unverbundenes Eigenleben zu führen scheinen und es den Fachleuten offenbar erlauben, eine für sie "interessantere Person" zu konstruieren und damit zu imaginieren, als im unmittelbaren Erleben des einzigartigen Dialoges, auf den es Tom Andersen ankam.

Insofern fühlte sich Tom Andersen ermutigt, auch die vielen unterschiedlichen inneren Stimmen eines Patienten zu Wort kommen zu lassen und ihnen respektvoll Gehör zu schenken, z.B. auch den so genannten psychotischen Gedanken, den vom Patienten gehörten Stimmen und gesehenen Gesichten, den scheinbar sinnlosen Äußerungen verwirrter "Geisterkranker", die aber nicht von ungefähr auftauchten und einzigartige Äußerungen voller Bedeutung für den Klienten sein konnten, die auf ihre Art eine Chance hatten, an die Bewußtseinsoberfläche geboren zu werden, statt sie unter Einsatz abstumpfender Psychopharmaka als erstes zu bannen, zu nivellieren und in die chemische Vergessenheit zu drängen. In dieser Hinsicht unterschied sich Tom Andersen wesentlich von vielen biologisch-chemistisch orientierten Psychiatern seiner und unserer Zeit, die den Geist und die Psyche als das Werk der Biochemie ansehen, als Resultat von Transmitterausschüttungen an den Nervenendigungen und -kontaktstellen, den Synapsen und die glauben, Schizophrenien und Depressionen, die sie vorher diagnostiziert haben, mit hohen Dosen Psychopharmaka über Jahre oder Elektrokrampftherapie heilen zu können, während Tom Andersen mitunter vor der Gefahr warnte, die Menschen mit solchen Methoden zu verkrüppeln, zu verändern, zu Minusmenschen mit Defekten zu erklären und statt zu heilen nur zu kaschieren unter einem oft hohen Nebenwirkungspreis.

Natürlich war Tom Andersen trotz seiner langsamen, fast pastoralen Art zu sprechen und seiner tiefen, beruhigenden Stimme kein Heiler oder Guru, sondern als forschender und lehrender Sozialpsychiater studierte er sein Fachgebiet, aber mit Blick auf alles, was ihm zum weiteren Verständnis dienlich schien, z.B. in Richtung Physiotherapie zur Beobachtung der Gestalt und der Haltung eines Menschen. Er war ein hochgradig empfindsamer, ja beinahe empfindlicher Mensch und konnte sich so ausgezeichnet in die verletzlichen, beschämbaren, ängstlichen und gleichzeitig oft auch tapferen, mit sich und ihrer Umgebung ringenden Klienten einfühlen und er drückte diese Empfindungen seinem Gegenüber aus, mit und ohne Worte. Er kämpfte darum, dass ihnen Respekt erwiesen wurde und er trat ebenso für seine Methodik und seine ärztliche Auffassung ein, die einem zutiefst humanistischen Menschenbild entsprach, das ähnlich der protestantischen Ethik - Tom Andersen schien im Alter immer spiritueller zu werden - Selbstverantwortlichkeit, Respekt vor der Person des Nächsten als gleichrangige(r) Bruder/Schwester, Worttreue und Annahme sowie Hingabe als eine Voraussetzung dafür, dass Gnade als Heilungsgeschehen entsteht bzw. sich selbst schenkt, beinhaltete.

So ist es bei der Betrachtung des "spirituellen" Tom Andersen nicht ungewöhnlich, wenn man Ähnlichkeiten zwischen Toms Körpermetapher über Skelettmuskulatur und schmerzhafter Physiotherapeutie zur im spirituellen Heilungsgeschehen verwendeten Herzmetapher findet. Das Herz, ein Hohlmuskel und Rhyrthmusgenerator (für die pulsierende Blutsäule und Schwingungsinformationen), gilt als Ort, an dem wir unseren Empfindungen und Gefühlen wohlwollend Raum geben können. Das Herz eines Menschen, der nicht im Einklang mit seinen Bedürfnnissen lebt, kann sich in Angst und eingefrorener Traurigkeit zusammen ziehen und verhärten. Den inneren Bedürfnissen und unseren Gefühlen in unserem Herzen Raum zu geben, führt im ersten Moment zu einer als schmerzhaft empfundenen Erweiterung. Wie bei der Entspannung der Skelettmuskulatur in der Ausatemphase ist auch das weiter und weicher werdende Herz in einem Heilungsprozess begriffen und die Verwendung dieser Metaphern scheint an das hermetische Prinzip der Entsprechungen von oben und unten, innen und außen, Mikrokosmos und Makrokosmos anzuknüpfen. Denn wie man von der Haltung eines Menschen und der Spannung seiner Skelettmuskulatur auf das Befinden von Herz und Gemüt schließen kann, so bestimmen unsere emotionalen Zentren mit ihren "Spannungen" auch unsere Haltungen sowohl im muskulären wie im mentalen Sinn. Doch Tom Andersen spekulierte nicht einfach, er fühlte hin, sah an und hörte zu!

Insofern war Tom Andersen auf seinem Gebiet der (Sozial-)Psychiatrie einer der idealistischen Revolutionäre, der "Helden", ohne dass er sich bewußt als solcher positionierte. Zusammen mit anderen Wegbereitern einer dialogischen Umgehensweise mit den Klienten, von denen er lernte, z.B. Harold A. Goolishian vom Galveston Family Institute in Texas, stellte er den Menschen und seine Schöpferkraft, mit der er sich seine eigene Geschichte und Person erzählt und schafft, in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Bedeutsam war damals in den 80er und frühen 90er Jahren der Ansatz des "problemdeterminierten Systems". Harry Goolishian vertrat bei den so genannten "still stehenden Systemen" die Ansicht, dass ein Problem ein System konstituiert und nicht ein System das Problem. Tom Andersen lernte in dieser Hinsicht von anderen Wegbereitern und lehrte schließlich als Supervisor und Vortragender auf vielen Reisen. Er wirkte hier auch durch Life-Konsultationen, die uns einige Videoaufzeichnungen von seiner Arbeit hinterlassen haben. Er scheute sich nicht, in unterschiedlichsten Kontexten selbst schwierigste sozialpsychiatrische Problemfelder aufzugreifen, z.B. Gewalt gegen Kinder und Frauen in Familien, Arbeit mit Strafgefangenen, Suchterkrankungen, Gewalt in der Psychiatrie mit massivem Medikamenteneinsatz, multi- und interkulturelle Kontexte.

Tom Andersen war nicht nur international unterwegs und ein gefragter Autor, er interessierte sich auch besonders in seinem Heimatland Norwegen und den angrenzenden skandinavischen Ländern Finnland und Schweden für gemeindepsychiatrische Modelle z.B. einer inderdisziplinären Krisenbehandlung auf Wunsch vor Ort in der Familie mit Etablierung einer kontinuierlichen Weiterbehandlung, vorzugsweise ambulant, notfalls auch stationär. Eine solche Psychiatrievision wurde im samischen Grenzgebiet Nordfinnlands mit Jaakko Seikkula unter Zusammenarbeit mit Tom Andersen Wirklichkeit. Prof. Seikkula war ursprünglich ein Assistent Tom Andersens in Tromsö. Auch ihn konnten wir zu einem Workshop nach Deutschland holen. Zu den weiteren Mitarbeitern des von Tromsö ausgehenden "Nordkalottprojektet" zählt die Kinder- und Jugendpsychiaterin Dr. med. Eva Kjellberg aus dem schwedischen Gällivare. Sie gehört zu dem mit Tom Andersen in Verbindung stehenden Netzwerk skandinavischer Sozialarbeiter und Therapeuten, die sich in den nördlichsten Teilen Skandinaviens, Finnland und Nordwestrussland im Bereich der Ausbildung in Beziehungs- und Netzwerktherapie und in der Entwicklung systemischer Arbeit in der entsprechenden Kulturregion engagieren.

Dank dieser Netzwerkidee mit ihrer praktischen Verwurzelung in tatsächlicher therapeutischer Arbeit, die wissenschaftlich von Tromsö aus begleitet wurde, werden auch die Gedanken von Tom Andersen in vielfältiger Weise weiterleben. Tom lebt auch in den Erinnerungen an unsere menschlichen Begegnungen und Erlebnisse weiter. Er war zwar ein Held gegen das Psychiatrieestablishment, aber ansonsten ein ganz gewöhnlicher Mensch mit seinen liebenswürdigen Schwächen und Eigenheiten. Und während das Netzwerk die Lücken bald überwachsen haben wird, diese besondere Blüte, die Toms Leben dargestellt hat, ist nun verblüht und wird einzigartig bleiben. Ein Freund und Kollege Toms noch aus der Zeit mit Harry Goolishian in Galvesten, Texas, Dr. Eugene Epstein, übermittelte mir anläßlich des Todes von Tom diese Geschichte: "Many centuries ago in the long darkness of the Alaskan winter, the Yupiit Eskimos said that when one among them dies, it is the beginning of a sweet, infinite journey on a beautiful underground river. But there is a danger along the way. The departed persons kayak can get caught in one of the vicious currents and be trapped forever in one of the eddy pools near the riverbanks. The traveller has no power to guide the kayak. Only those who remain behind can keep the kayak in the center of the river, safe from the dangerous currents and eddies. They do this by the words they speak and the thoughts they hold about the one who has left the common house. In this way, for more than 10.000 years the Yupiit have avoided the end of the world. Tom comes from a part of the world not unlike that known to the Yupiit. I can picture him getting into his kayak in the long darkness of the northern norwegian winter, leaning back and smiling as we guide him along on his sweet and infinite journey."

Farewell, Michael



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