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Tom Levold: Fern sehen und doch so nah!
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Und wo war ich am 9. November 1989? Im Zug - auf der Fahrt nach Linz, wo ich am kommenden Tag auf Einladung meines Freundes Herbert Paulischin ein Seminar im Kinderschutz-Zentrum zu halten hatte. Da es noch kein Handy gab und meine Pension in Linz zwar auch noch am späten Abend leckere oberösterreichische Küche, aber keinen Fernseher aufzubieten hatte, ist das Ereignis des 9.11. völlig an mir vorbeigegangen. An den Seminarteilnehmern aber offensichtlich auch, denn es gab keinen am nächsten Morgen, der mich auf die Situation in Berlin angesprochen hätte. Ich wollte mit einer Video-Demonstration eines Falles meinen Workshop eröffnen und versuchte, die Video-Anlage in Gang zu setzen, was - wie ein in der Referentenfolklore fest verankerter Topos besagt - keine leichte Sache ist. Ich schaltete den Fernseher ein und versuchte, den Kanal für den Videoeingang zu finden. Auf dem Bildschirm war eine Menschenmasse zu sehen, die sich vor und auf einer Mauer tummelte, die Ähnlichkeiten mit der Berliner Mauer hatte, offensichtlich euphorisiert, mit Sektflaschen in der Hand, aber eindeutig nicht mein Video-Band. Nach mehrmaligem Hin- und Herschalten erfasste mich eine Ahnung, dass es sich hier nicht um eine Inszenierung handelte, sondern um aktuelle Nachrichten. Ähnlich ungläubig habe ich 12 Jahre später am 11.9. auf die Bildschirme in der Kölner U-Bahn gestarrt und erst zuhause glauben wollen, dass das, was ich da sah, Realität und nicht Fiktion war. Meine plötzlichen, für mich völlig überraschenden Tränen und mein Unvermögen, mit dem Seminar wie geplant zu starten, verdanktem sich einem Gefühl von Überwältigung, dem Gefühl, schockiert zu sein von einem Ereignis, das der Kognition sozusagen längst als fällig vor Augen stand, vom Affekt aber bislang als ausgeschlossen angesehen wurde. Dass die Wirklichkeit meiner Phantasie so weit vorauszueilen imstande war bzw. dass ich mit meinen Erwartungen der Realität so weit hinterhergehinkt war, beschämte mich. Immerhin war die aufgeladene Atmosphäre in der DDR, in Ungarn und in der CSSR seit Wochen beherrschendes Thema in den Medien gewesen. Ich war einfach nicht vorbereitet. Zu meinem Trost wurde der Verlust meiner Fassung von der Anteilnahme der Workshop-Teilnehmer aufgefangen, so dass das Seminar doch noch ein gutes Ende nahm. Die Folgen der Maueröffnung, die letztlich in die Wiedervereinigung mündeten, wurden mir erst später klar. Die Mauer wurde einen Tag vor meinem 8. Geburtstag errichtet, die Bilder in den Zeitungen (wir hatten noch keinen Fernsehapparat) und die Gespräche der Erwachsenen machten einen bleibenden Eindruck auf mich. Meine Mutter ist Berlinerin - ihre Tante, „Wahlmutter“ nach dem frühen Tod ihrer leiblichen Mutter, lebte in Berlin-Köpenick und war plötzlich nur noch brieflich erreichbar. Die deutsche Teilung war sozusagen Familienthema - sorgfältig wurde überlegt, was im Osten Mangelware war und was geschickt werden musste (Kaffee etc.), umgekehrt hatte ich mäßige Freude an Ostpäckchen mit Baukästen, deren Gummibestandteile unerträglich stanken. Dieser Gestank bestärkte in mir schon früh Zweifel an der Systemüberlegenheit des Sozialismus. In den späten 60er Jahren relativierte sich die Dramatik der Unterscheidung einerseits, weil die ostdeutsche Verwandtschaft als Rentner Reiseerlaubnis nach Westdeutschland erhielt und ich andererseits im Zuge der 68er-Bewegung mich als Schüler immer mehr radikalisierte, was die Frage der Systemkonkurrenz auf die Tagesordnung setzte. Auch wenn ich 1972 bei der Bundestagswahl ein einziges Mal die DKP gewählt habe, um eine DKP-Freundin für mich zu gewinnen (um festzustellen, dass der Erfolg bei Frauen nicht unbedingt von der eigenen Wahlentscheidung abhängt), hat mich der bürokratische Totalitarismus des „realen Sozialismus“ immer abgestoßen. Als „Sponti“ hatte ich weder mit der DDR noch mit China etwas am Hut. Mein konkreten Kontakte mit der DDR-Wirklichkeit reduzierten sich daher - was ich noch heute bedauere - auf die Bewältigung der Transitstrecke von Helmstedt nach Berlin und zurück, auf schlechte Bedienung in der Raststätte Magdeburger Börde, auf Einkäufe in den HO-Läden und Bücherkäufe (Marx etc.) in Ostberlin sowie Streifzüge mit (West-)Berliner Freunden durch (Ost-)Berliner Kneipen mit sensationellen Bierpreisen, spießiger Kundschaft und dem anschließenden erleichterten Gefühl, aus Feindesland wieder heil nachhause zu kommen - also auf die Perspektive eines bedrohten Konsumenten. Kurz, ich hatte trotz meines politisch-theoretischen Interesses keinen blassen Schimmer von der Lebenssituation in der DDR. Die Augen geöffnet haben mir 1986 die Artikel des in den Westen übergewechselten DDR-Ökonomen Harry Maier, der die brüchige Basis der DDR-Ökonomie offenlegte und den Zusammenbruch des sozialistischen Systems schon aus Gründen der Abhängigkeit vom globalen Kreditsystem voraussagte - es war also tatsächlich mit dem Zusammenbruch der DDR zu rechnen. Aber wann? Keiner wollte es wirklich wissen. Bis dann das Volk zum Erstaunen Westdeutschlands selber initiativ wurde. Köln ist allerdings sehr weit weg! Keine Besuchermassen aus der DDR nach dem 9.11. - Alles im Zusammenhang mit der Maueröffnung und der Wiedervereinigung ist hier in Köln bloßes Medienereignis gewesen. Fern sehen und doch so nah! Das ist leider auch bis heute so. Schade! Ich habe die Landschaft im Großraum Berlin kennengelernt über Westberliner Freunde, die mich herumgeführt haben. Ich bekomme gelegentlich Einladungen zu Seminaren von Stralsund bis Sachsen, über die ich mich freue und die ich genieße - aber hier im Westen ist man doch ziemlich weit weg von allem. Ostdeutschland ist mir nach wie vor fremd, im Unterschied zu Nord- oder Süddeutschland. Die Schuld nehme ich auf mich: was hätte ich nicht alles kennenlernen können, wenn ich mich nur bemüht hätte - aber Köln ist wie gesagt weit weg: und zwingt nicht zur Initiative. Um so mehr freue ich mich über die Kontakte und Beziehungen, die in den vergangenen 20 Jahren zu ostdeutschen Kolleginnen und Kollegen durch Einladungen entstanden sind - Kontakte, die mir nicht nur persönliche Freundschaften eingebracht haben, sondern auch meinen Horizont enorm erweitert haben. Dass diese Gelegenheiten zunehmen werden, wünsche ich mir für die nächsten zwanzig Jahre! |
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