Zu jener Zeit hatte ich mit Horst Eberhard Richter die Jahrestagung des Deutschen Kollegiums für Psychosomatische Medizin in Gießen auszurichten mit dem Thema „Neues Denken in der Psychosomatik“, eine deutliche Anspielung auf die zu dieser Zeit heiß diskutierte russische Perestroika. Viele DDR-Kollegen waren eingeladen, durften jedoch, mit wenigen Ausnahmen, nicht kommen. Für den 10. November war Rita Süßmuth, die damalige Bundestagspräsidentin, mit einem öffentlichen Vortrag angekündigt, um über Familie und Gesellschaft zu sprechen. Dann überschlugen sich die Ereignisse. Rita Süßmuth eilte zu einer Kundgebung an den Berliner Reichstag. Ihr Sekretariat schickte ein umfangreiches Vortragsmanuskript. Der Saal war brechend voll. Schnell wurde entschieden, dass ich selbst das Manuskript vortrage. Wer Rita Süßmuths damalige Diktion kennt, kann sich vorstellen, wie schwer es mir fiel, in diese manchmal etwas „romantische“ Sprache zu schlüpfen, zumal alle in Gedanken woanders waren. Die Veranstaltung hatte jedenfalls dadurch unfreiwillige Komik. Am nächsten Morgen war eine Ost-West-Podiumsdiskussion geplant. Der inzwischen verstorbene Michael Lukas Möller sollte mit DDR-Kollegen, darunter auch die Charité-Medizinpsychologin Ehlert diskutieren. Er begann mit einem Traum, den er in dieser Nacht hatte, von Wiedervereinigung und goldener Zukunft. Frau Ehlert, die sehr stark der DDR verbunden war, konnte nicht mithalten. Mitten hinein platzte Jochen Maatz aus Halle, der die Grenzöffnung nutzte, nach Gießen zu eilen. Eine unbeschreibliche Aufbruchstimmung. Ich selbst hatte geplant, den gerade übernommenen Freiburger Lehrstuhl wieder aufzugeben und an die Charité zu gehen, in ein großes, visionäres Gesundheitszentrum, das leider (oder vielleicht zu meinem Glück) niemals zustande kam. Parallel zu dieser weltbewegenden Entwicklung lief der Zerfall meiner eigenen Familie, die Trennung von meiner ersten Frau, der Tod meines jüngsten Bruders und der Beginn einer neuen Partnerschaft, in der ich bis heute mit zwei weiteren Kindern gut lebe. Fernab von allem, im idyllischen Breisgau, eine psychosomatische Abteilung neu aufzubauen, lenkte ab, erschien aber auch etwas unwirklich. Fazit: eine ungeheuer bewegende Zeit im Großen wie im Kleinen. Überraschend, wie heute, im Rückblick, alles normal geworden ist, vieles sich nicht bewahrheitet hat, vieles aber auch besser gekommen ist, als befürchtet wurde. Ich denke mit sehr zwiespältigen Gefühlen an den November 1989.
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