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Ruppert Heidenreich: Die Wende 1989 oder Ende einer Dienstfahrt
Donnerstag, 9. November 1989, kurz vor 18.30 Uhr

Eben ist eine Dienstbesprechung zu Ende gegangen. In Marsberg, fast im östlichsten Winkel von Nordrhein-Westfalen. Ich gehe über den Parkplatz zu meinem Auto. Wenn alles gut geht, sind es noch 3 ½ Stunden Autofahrt bis Aachen. Einmal quer durch NRW. Es ist dämmrig, fast schon dunkel. Schön, eine gemütliche Rückfahrt mit klassischer Musik.
Beim Einstecken des Autoschlüssels schaltet sich automatisch das Radio ein. In den WDR 2-Nachrichten gibt es einige Meldungen zur Situation in der DDR. Wie gehabt … Tschechien, Ungarn, Leipzig, Berlin …seit Wochen lauter Ereignisse, die oft eine Stunde später schon wieder Makulatur sind. Ich höre nur halb hin.
Ich krame in meinen CDs auf dem Beifahrersitz. Mir ist so nach dem Tripelkonzert von Beethoven! Um den Verkehrsfunk nicht zu verpassen, bleibe ich noch bei den Nachrichten. Ich starte und fahre zunächst über die Landstraße, um irgendwo auf die A 45 zu kommen.

Kurz nach 19.00 Uhr

Plötzlich unterbricht der Radiosprecher das Verlesen der Nachrichten und gibt eine gerade eingegangene Meldung bekannt, dass die DDR-Führung ab sofort Ausreisen von Bürgern aus der DDR genehmigen würde. Ja, ja denke ich, da hat sicher wieder jemand das Gras wachsen gehört und mit dem Wünschbaren verknüpft. Diese DDR wird doch niemals einen uneingeschränkten Reiseverkehr zulassen, das wäre doch ihr Ende! Der Verkehrsfunk meldet: kein Stau, freie Fahrt. Also wird es eine gemütliche Autofahrt mit Musik – wie schon oft auf langen Dienstfahrten.
Ich lege die CD ein, der erste Satz erklingt. Nach kurzer Zeit taucht der erste Hinweis auf die Autobahn im Scheinwerferkegel auf. Ich fahre in die Auffahrt zur Autobahn.

ca. 19.45 Uhr

Jetzt gibt es gleich noch mal Nachrichten. Vielleicht doch was Neues in der DDR? Die Neugier nagt erfolgreich in mir. Ich schalte am Ende des ersten Satzes des Tripelkonzertes schnell ins Radio. Mein CD-Player wirft die CD raus, weil ich das Radio eingeschaltet lasse.
Rauschen, der Sender wird immer schwächer… Sendersuchlauf. Verdammt, gibt es hier denn keinen anderen Radiosender, der was berichtet? Nächstes Mal kaufe ich ein Autoradio, das sich die Frequenzen eines gespeicherten Senders allein sucht. Ich habe das Lenkrad fest umgriffen und schaue angespannt auf die dunkle Autobahn.
Werden die SED, das Politbüro der DDR es zulassen, dass die Menschen ohne Einschränkungen über die Grenzen gehen?
Oder wird es Gewalt geben?
Wie wird sich die Armee verhalten?
Sendersuchlauf.

ca. 20.30 Uhr

Kurzwelle. Ich empfange einen mir unbekannten Sender nur undeutlich. Von woher sendet er? Eilmeldung der Deutschen Presseagentur: „Die DDR–Grenze ist offen.“ Die DDR-Grenze ist offen? Wirklich? Was bedeutet das genau? Gleichzeitig wird mitgeteilt, dass die Ostberliner Volkspolizei versucht, die Menschen zurückzuschicken, die von der offenen Grenze gehört haben und nach Westberlin wollen. Ja, was denn nun? Offen oder nicht offen? Typisch kommunistische Dialektik: Die Grenze ist offen, aber keiner darf rüber!
Ich schaue auf meinen Tacho: die Nadel pendelt bei100 km/h – ich fahre sehr viel langsamer als sonst. Ich habe das überhaupt nicht bemerkt. Das Hantieren mit dem Sendersuchlauf hat mich wohl beim Fahren abgelenkt. Außerdem wird so das Fahrgeräusch meines Golf-Diesel leiser und ich kann den Sender besser verstehen. Anspannung und Aufregung lassen nicht nach.
Sendersuchlauf.
Endlich findet mein Radio wieder eine verständliche WDR 2-Station. Ein Bericht aus Polen: Bundeskanzler Helmut Kohl beim Staatsbesuch. Offenbar weiß er noch gar nichts von den Ereignissen in Ostberlin. Typisch Kohl! Sitzt am falschen Ort, aber sitzt alles aus! Nächste Woche muss ich mal wieder ins Kabarett gehen.
Sendersuchlauf.

ca. 21.30 Uhr

Ich lande bei BFN, dem Sender der englischen Streitkräfte in Deutschland. Den höre ich öfter, um mein Englisch aufzupolieren. Auch dort werden die Nachrichten über die DDR an erster Stelle gesendet. Ganz schön kritisch, die Engländer! Sind das Warnungen? Wovor wollen sie warnen? Ich höre auch, dass George Bush und sein Außenminister Baker mit Zurückhaltung auf die Ereignisse in Berlin reagieren.
In mir steigen Enttäuschung und Wut auf. Diese Feiglinge! Sie äußern sich staatsmännisch und political correct, äußern Sorgen und Bedenken, blahblahblah. In Wirklichkeit wollen die bloß die Wiedervereinigung Deutschlands nicht. Scheuen das Risiko. Anstatt die Menschen der DDR zu unterstützen, haben sie Bedenken. Zum Kotzen, wie in meiner Dienststelle! Ich hasse diese ewigen Bedenkenträger, die nie sagen, was geht, sondern immer nur Bedenken haben, was alles nicht geht.
Sendersuchlauf.
Ich höre aufgeregte Kommentatoren, Konferenzschaltungen, Nachrichten über große Menschengruppen, die sich in Berlin in der Nähe der Grenzübergänge versammeln. Plötzlich bin ich hellwach. Passiert da doch etwas? Mehr als ich erwartet hätte?

Nach 22.00 Uhr, Autobahnkreuz Unna/Dortmund

Gleich muss ich auf die A 1 nach Köln. Ich drehe an den Radioknöpfen.
Sendersuchlauf.
Ich sehe die Abfahrt, als ich gerade vorbei fahre. Zu spät. Egal. Fahre ich halt über die A 40, Dortmund, Essen, Duisburg-Kaiserberg, irgendwann werde ich auf die A 57 kommen. Noch eineinhalb Stunden bis Aachen – bei meinem reduzierten Tempo.
Sendersuchlauf. Mein Tripelkonzert habe ich völlig vergessen.
Wieder eine neue Meldung auf irgendeinem Radiosender: das DDR-Fernsehen bestätigt zwar die Ausreisemöglichkeiten für DDR-Bürger, aber es müssen Anträge gestellt und genehmigt werden. Also doch alles nur ein Sturm im Wasserglas? Da verändert sich doch nichts! Meine Stimmung kippt aus der Euphorie in eine verhaltene Depression. Alles vergeblich? Wieder nur, wie in den vergangenen Tagen, Nachrichten ohne Wert?
Sendersuchlauf.

ca. 22.45 Uhr

WDR 2: Stimmengewirr, Live-Übertragung aus Berlin, in der Bornholmer Straße haben die ersten Menschen aus Ostberlin die Grenze in den Westen passiert. Meine Stimmung steigt wieder. Es ist ein Wechselbad der Gefühle. Mein Gott, ist das spannend! Spannender als jeder Krimi!
Ich fahre automatisch, fast in Trance, diese Strecke hier fahre ich täglich, kenne jede Kurve, jede Fahrbahndelle. Meine Gedanken und Gefühle sind in Ostberlin, tausende Gedanken und Bilder: Der Grenzübergang. Den habe ich erst vor wenigen Wochen mit dem Auto von Westberlin nach Ostberlin passiert. Kleinliche Kontrollen und Schikanen. Vor 15 Jahren Besuch von Schulen in der DDR auf Einladung der Nationalen Front in Aue und Karl-Marx-Stadt. Bei der Wiedereinreise in die BRD werde ich vom Verfassungsschutz verhört. Wird jetzt endlich alles normal?
Als ich auf das große blaue Schild vor mir Blicke, bin ich am Autobahnkreuz Jackerath. Noch 25 Minuten bis Aachen. Ich beschleunige jetzt. Ich möchte noch ein paar Bilder im Fernsehen sehen. Ich möchte live dabei sein. Ich möchte diesen historischen Moment auch mit eigenen Augen sehen und erleben. Klar! Heute wird Geschichte geschrieben. Die erste erfolgreiche demokratische Revolution in Deutschland! Und eine friedliche!
Meine Anspannung will nicht weichen. Es ist wie im Krimi kurz vor der Lösung:
Was ist, wenn da doch noch irgendjemand an den bröckelnden Schaltzentralen der Macht die Nerven verliert?
Was ist, wenn jemand in Wut und Hass oder aus Rache einen Volkspolizisten angreift, der in Notwehr schießt?
Was ist, wenn die Situation von Krawallmachern missbraucht wird?
Und es gibt auch eine Ecke, die mich mit Stolz erfüllt: Deutsche Bürger haben es mit Mut und Ausdauer geschafft, ohne Blutvergießen den Eisernen Vorhang zu zerreißen. Eine friedliche und demokratische Revolution. Und das in Deutschland!

ca. 23.30 Uhr

Das Ende meiner Dienstfahrt. Ich bin in Aachen, sprinte ins Fernsehzimmer. Mein Gott, wie lange braucht der blöde Kasten, um warm zu laufen! Ich sehe Bilder von tausenden Menschen, die die Grenzen passieren und auf der anderen Seite von Westberlinern empfangen werden.
Später folgen Bilder von tausenden Menschen, die auf der Mauer tanzen, die sich umarmen, die mit Hämmern Stücke aus der Mauer herausreißen, die weinen. Die Anspannung von einem der spannendsten Krimis, die ich am Radio gehört habe, fällt ab. Ich merke, wie mich die Bilder berühren und spüre die Tränen in meinen Augen …



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