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Wolfgang Loth: Vorfall (Eine Art Zitat des Tages)
Eigentlich wollte ich mich diesmal nicht beteiligen am Adventskalender. Was hätte ich zum Thema zu sagen als Bewohner einer einmal Bonner Republik , was könnte ich anderes beisteuern als bestenfalls sympathisierende Anekdoten? Natürlich weiß ich noch, wo ich war, als ich vom „Mauerfall“ erfuhr, von eröffneter Entgrenzung: ich wollte gerade von der Arbeit nach Hause fahren als ich im Autoradio davon hörte. Ich bin zurückgelaufen zu den KollegInnen in der Stelle und habe das Übliche gerufen - na was wohl... Und natürlich habe ich eher sentimental miterlebt, was dann zu sehen war auf dem Fernsehbildschirm. Und das innere Rauschen beiseite geschoben, wie das wohl wird nach dem Rausch. Und nicht darüber nachgedacht, wie wir „früher“ zur Adventszeit ein Licht ins Fenster stellten für die „Brüder und Schwestern“ im Osten, und dass man das als Kind vielleicht mit dem gleichen Gruseln erlebt hat wie die Geschichten von den Kindern in der Diaspora und beim Gedenken an die armen Heidenkinder, für die man in der Mission sammelte. Allsowas, banal doch.
Weshalb ich dann doch etwas mitteile hier, liegt weiter zurück. Ich hatte wieder einmal in der legendären Interviewreihe gelesen, die Günter Gaus in den 1960er Jahren im Fernsehen brachte, wunderbar aufmerksame, ruhige, kluge Gespräche waren das und selbst mit schwierigem Klientel respektvoll und unerschrocken zugleich. Insofern wäre mein Beitrag heute wohl wieder auch eine Art „Zitat des Tages“. Das Gespräch, von dem hier die Rede sein soll, fand ein Vierteljahrhundert vor dem Mauerfall statt, im Januar 1964 wurde es gesendet. Gaus sprach mit Herbert Wehner. Es ist ein Gespräch, in dem es möglich scheint, einem politischen Arbeiter in Herz und Seele zu schauen, sein Ringen um Klärung, Verstehen und sinnvolles Handeln nachzuvollziehen, und worin sich das gründete und ethisch reflektierte. Solches als Messlatte an heutige Talkshows anzulegen führte zum Quotenharakiri. Wer will das schon? Im übrigen sind wir ja frei, sozusagen – obwohl, „freiheitlich“ ist vielleicht nicht dasselbe. Also, von mir aus keine Geschichten. Gaus jedenfalls kam mit Wehner auf Perspektiven zu sprechen für die Menschen im „sowjetisch-kontrollierten Teil“. Wehner sagte damals eigentlich nichts Besonderes, es wird erst im Nachhinein zu etwas Bemerkenswertem. Gaus hatte gefragt, was Wehner unter den sozialen Errungenschaften verstehe, die er nicht aufgeben möchte. Wehner sagte nach einigem Einleitenden:
„Und von den Errungenschaften? Sehen Sie, ich bin kürzlich wieder dafür angepufft worden. Was ich denn damit meinte, was ich aus dem, was man auf der anderen Seite im sowjetisch-kontrollierten Teil als soziale Errungenschaften oder sozialistische Errungenschaften bezeichnet, in die Bundesrepublik übernehmen wolle. Gar nichts will ich übernehmen in die Bundesrepublik. Aber ich habe mich gefreut, daß es Leute gibt von ganz anderer Herkunft und ganz anderer Denkweise, die in dieser Beziehung ganz ähnlich denken und vorschlagen. Ich denke an Nell-Breuning. Ich denke an Amold Brecht, den früheren preußischen Staatssekretär [...] Beide sind wieder ganz anders, jeder für sich und voneinander und mir gegenüber. Die sagen doch alle: Wenn es zur Wiedervereinigung kommt, das heißt, wenn die politischen Voraussetzungen, wie internationaler Ausgleich usw., dafür geschaffen sein werden, an denen man arbeiten muß, dann muß es möglich sein, daß man nicht einfach sagt, von diesem Tage an wird es dort so und da so. Da hat Nell-Breuning zum Beispiel in bezug auf sozialpolitische Dinge gesagt: Alles das, was die Menschen in der Zone selbst nicht ablehnen, das muß man ihnen lassen. Ich finde, das ist ein guter Standpunkt, auch ein guter Standpunkt gegenüber denen, die die Mauer gebaut haben. Ein guter Standpunkt gegenüber denen, die behaupten, die Wiedervereinigung sei für uns im freien Teil Deutschlands nichts anderes als der Versuch, wie es Herr Ulbricht gesagt hat, die „Gewalt der imperialistischen Monopole“ auch auf seine „DDR“ zu erstrecken. Das zieht dem doch den Boden weg! Lassen Sie doch das Volk selber entscheiden! Wir brauchen doch da gar keine Angst zu haben. Über alles kann man reden, wenn die Freiheit der Person und die Gleichheit in der Freiheit der Person und das Recht, diese Freiheit zu gewährleisten und zu bewahren, wenn dies in beiden Teilen Deutschlands erst einmal durchgesetzt wird. Dann kann alles andere sukzessive und wie es sich ergeben wird, weitergehen. Da gibt es ja auch gewisse natürliche Entwicklungsgesetze.“ Das mit den „natürlichen Entwicklungsgesetzen“ ist vielleicht eine etwas gewagte Konstruktion, je nach Blickwinkel erfreulich oder unerfreulich. Na gut, vielleicht noch dies: wäre es ganz  verrückt, die Formulierung „wenn dies in beiden Teilen Deutschlands erst einmal durchgesetzt wird“ als eine immer noch zu bewältigendeAufgabe zu begreifen? Nur so ein Einfall...
Das Zitat findet sich in: Günter Gaus/ Herbert Wehner (1964) der Traum vom einfachen Leben. In: Günter Gaus (1964) Zur Person. Porträts in Fragen und Antworten. Bd. I. München: Feder-Verlag, S.209-227.



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