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Roland Schleiffer über Niklas Luhmann
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In welchem Zusammenhang bist Du erstmals dem Namen, der Person oder dem Werk Niklas Luhmanns begegnet? Und welchen Unterschied hat diese Begegnung für Dich persönlich gemacht?
RS: Anlässlich der Habermas-Luhmann-Kontroverse Anfang der 70er Jahre
hörte ich erstmals von ihm. Nachträglich glaube ich, dass ich damals
eher gefühlsmäßig auf der Habermas-Seite stand, was sicherlich zu tun
hat mit meiner politischen und akademischen Sozialisation in den Zeiten
der 68er Bewegung. Seit etwa 1980 habe ich mich dann intensiv mit
Luhmann beschäftigt, da mich sein vergleichsweise nüchterner
funktionalistischer Ansatz immer mehr überzeugte. Seitdem habe ich
versucht, die Methode der funktionalen Analyse auf die verschiedensten
psychopathologisch relevanten Sachverhalte anzuwenden, wie etwa Wahn,
Tic, Dissozialität, selbstverletzendes Verhalten oder Suizidalität.
Persönlich waren die Folgen der Beschäftigung mit seinem Werk durchaus
ambivalent. Einerseits sah ich mich als „Systemtheoretiker“ bald in
einer Außenseiterposition, in der psychoanalytischen ebenso wie in der
kinderpsychiatrischen community mit ihrem nach Luhmann
medizinsystemtypischen Relexionsdefizit. Die Luhmannsche Systemtheorie
gibt die Sicherheit, dass sich Nachdenken auch in Zeiten des
empiristischen mainstreams lohnt. Anderseits brachte mir das Studium
der Luhmannschen Werke einen enormen intellektuellen Lustgewinn. Viele
Ferien der Vergangenheit verbinde ich in der Erinnerung mit der Lektüre
eines neuen Buches von ihm. Luhmann war für mich der einzige
Wissenschaftler, dessen Tod mich traurig machte. Bis zuletzt wartete
ich darauf, dass Luhmann sich doch noch einmal explizit mit dem
psychischen System befassen würde. Leider kam es nicht mehr dazu.
Welches seiner Werke hat eine besondere Bedeutung für Dich und warum?
RS: Ganz sicher sein „opus maximum“, das Buch „Soziale Systeme“.
Auch wenn es hierbei primär um die kommunikativen Systeme geht, konnte
ich doch viel lernen über die Funktionsweise psychischer Systeme, für
die ich mich als (Kinder- und Jugend)psychiater primär zu interessieren
habe. Auch nach über 20 Jahren gelingt es mir immer wieder, in diesem
Buch Neues zu entdecken.
Gab es persönliche Begegnungen mit Luhmann und, wenn ja: welche sind Dir besonders in Erinnerung geblieben?
RS: Nur einmal, bei einem gemeinsamen Mittagessen „beim Italiener“
in der Pause eines Familientherapieseminars in Frankfurt. Ich war
beeindruckt, wie schnell er sich hineindenken konnte in die Aufgaben
und Erfordernisse von Familientherapie. Im persönlichen Gespräch war
ich sehr angetan von seinem angenehm distanzierten Interesse.
Inwiefern können Mitglieder der
beratenden Professionen (Psychotherapie, Beratung, Supervision etc.)
von der Lektüre der Werke Luhmanns aus Ihrer Sicht profitieren - und
wie würdest Du die Antwort begründen?
RS: Das Prinzip der funktionalen Analyse finde ich insofern
ausgesprochen handlungsanleitend, als es Vergleichsmöglichkeiten
eröffnet. Die systemtheoretische begründete Einsicht, dass gestörtes
und/oder störenden Verhalten sich immer als sinnhafter
Anpassungsversuch verstehen lässt, ermöglicht in therapeutischer
Absicht die Suche nach funktional äquivalenten Alternativen, welche
allerdings die individuellen und/oder familiären
Entwicklungsmöglichkeiten weniger beschränken als die als gestört und
auffällig konnotierten Verhaltensweisen. Ich bin davon überzeugt, dass
es sich lohnt, die Entwicklungspsychopathologie, für welche ja gerade
die Begriffe von Äqui- und Multifinalität zentral sind, auf einer
systemtheoretischen Grundlage weiter auszuarbeiten.
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