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Armin Nassehi über Niklas Luhmann
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In welchem Zusammenhang sind Sie erstmals dem
Namen, der Person oder dem Werk Niklas Luhmanns begegnet? Und welchen
Unterschied hat diese Begegnung für Sie persönlich gemacht?
AN: Ich bin dem Namen Luhmann im Studium immer wieder begegnet, ohne jedoch
je systematisch etwas von ihm gelesen zu haben. Bekannt war Luhmann aus
der Perspektive des linksintellektuellen mainstreams nur als die andere
Seite. Erst nach dem Studium, also als Doktorand und wissenschaftlicher
Mitarbeiter an der Universität Münster (ab 1986) habe ich begonnen,
Luhmanns Werke zu studieren. Ich habe selbst ein Studium der
Erziehungswissenschaften (Diplom) abgeschlossen, parallel aber ein
Zweitstudium in Philosophie absolviert (das ich dann aber erst in der
soziologischen Promotion als Nebenfach abgeschlossen habe). In der
Philosophie war ich vor allem an solchen Theorien interessiert, die
perspektivistische und operative Theorieformen miteinander verbunden
haben. Dazu gehörten die unterschiedlichen Spielarten der Hermeneutik
und der Existenzphilosophie, der nietzscheanischen Kritik der
Systemphilosophie, Adornos dialektische Negativierung Hegels, v.a. aber
Heideggers Fundamentalontologie. Letztere hat Fragen gestellt, die ich
insofern aufregend fand, als man darin beobachten konnte, wie kleine
begriffliche Veränderungen große theoretische Wirkungen erzielen
konnten. Faszinierend war daran für jemanden, der in den
sozialwissenschaftlichen Anteilen seines Studiums v.a. mit dem
linksintellektuellen Mainstream konfrontiert war, dass solche
Änderungen der Gegenstandskonstitution bisweilen
Selbstverständlichkeiten außer Kraft setzten, von denen alles andere
abhing. Hier hatte die Luhmann-Lektüre für mich eine geradezu
katalysatorische Funktion (keine kathartische!), weil man hier etwas
Ähnliches beobachten konnte: nicht nur, was sie sagt, sondern auch wie
eine Theorie funktioniert. Über Luhmann habe ich dann auch zu einer
ganz anderen Lektüre Habermas’ und Adornos gefunden, deren Sätze nun
viel eher als Theorien erschienen, deren kontingenter Aufbau als Aufbau
deutlicher wurde – zumindest ging mir das so.
In der Philosophie habe ich erst mit Husserl zur Subjektphilosophie
gefunden – und von dort ist es nur ein kleiner Schritt zu Luhmanns
Autopoiesis-Theorie, die die derzeit vielleicht leistungsfähigste
operative Theorie ist – eine Theorie, die sich dafür interessiert, wie
Strukturen sich selbst in jeweiligen Gegenwarten (Husserl:
Urimpression; Luhamnn: Ereignis) rekursiv aufbauen. In der ganzen Sache
steckt eine spannende Ontologie, die man nicht mehr so nennen darf, die
aber in ihrer Fundierung in Kybernetik, Systemtheorie und nicht zueltzt
Sinntheorie durchaus ontologische Implikationen hat, für die sich
Philosophien heute mit ihrer bisweilen naiven Gleichsetzung
sprachlicher Strukturen und außersprachlicher Realitäten nicht mehr
interessieren.
All das war der Ausgangspunkt, sich soziologisch an dem Problem
abzuarbeiten, dass die Soziologie nicht nur die Gesellschaft
beschreibt, sondern das zugleich in der Gesellschaft macht. Das ist ein
einfacher Satz, der in seinen Konsequenzen selten gesehen wird. Die
soziologischen Grundbegriffe sind oftmals allzu sehr in den
alltäglichen mainstream ihrer Plausibilitäten verstrickt – man denke
etwa an „Gesellschaft“, „Handeln“ oder „Organisation“. Wohl kaum eine
Theorie bietet die Möglichkeit solcher Selbstverfremdung dieser
Verstrickung. Das scheint mir das Attraktive daran zu sein.
Persönlich besteht eine der wichtigsten Herausforderungen der
Luhmannschen Theorie für mich darin, die Theorieperspektive mit
empirischer Forschung zu verbinden, was ich in methodologischen
Schriften (etwa meine Habilitationsschrift) und in empirischen
Projekten über Migration, Todesbilder, Ethik-Gremien und religiöse
Kommunikationsformen bereits umgesetzt habe.
Ferner arbeite ich an einem zeitdiagnostischen,
gesellschaftstheoretischen Konzept mit dem Titel „Gesellschaft der
Gegenwarten“, das thereotische, zeitdiagnostische und
empirisch-forschungstechnische Perspektiven verbinden soll. Ich denke,
dass für mich die Möglichkeit der Weiterentwicklung dieser Luhmannschen
Perspektiven der besondere ertrag dieser Theorie ist.
Welches seiner Werke hat eine besondere Bedeutung für Sie und warum?
Den bleibendsten Eindruck hat auf mich ohne Zweifel „Soziale Systeme“
(1984) gemacht. Sicher lag das daran, dass es das erste Werk von
Luhmann war, das ich intensiver studiert habe, zum anderen lässt sich
an ihm wohl am deutlichsten die Reflexion theoretischer
Begriffsentscheidungen diskutieren. Allerdings bin ich gar nicht an
Werken von Luhmann interessiert, sondern an der Anwendung und Umsetzung
dieser Denkungsart für die Soziologie. Ich hoffe, dass nicht eine
Musealisierung des Werkes durch original- und werkgetreue Rezeption
oder gar langen Qualifikaitonsarbeiten über die Werkgeschichte
geschieht, sondern eine Anwendung und Weiterentwicklung des Theorems.
Gab es persönliche Begegnungen mit Luhmann und, wenn ja: welche sind Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
Ich bin Luhmann (außer anlässlich von Vorträgen) zwei mal begegnet. Für
mich persönlich hatte das so wenig Bedeutung, dass ich damit keine
narrationsfähigen Erinnerungen verbinde.
Inwiefern können Mitglieder der beratenden Professionen
(Psychotherapie, Beratung, Supervision etc.) von der Lektüre der Werke
Luhmanns aus Ihrer Sicht profitieren - und wie würden Sie die Antwort
begründen?
Aus systemtheoretischer Perspektive ist Beratung als Kommunikation
aufzufassen, und zwar in dem Sinne, dass Beratung eigene Probleme löst
und nicht das Problem, um das es thematisch vordergründig geht. Das
Problem jeder Kommunikation ist das Problem der Anschlussfähigkeit.
Was freilich jede Form beratender Kommunikation auszeichnet, ob
klassisch-professionell oder nicht, ob eingebettet in
Organisationskontexte oder in Buch- oder sonstiger Textform, ist ihr
asymmetrischer Zuschnitt. Beratende Kommunikation konstruiert auf der
einen Seite Expertise und Kenntnis, auf der anderen Seite einen Bedarf
an solcher Expertise und Kenntnis oder wenigstens einen Bedarf für
deren Folgen. Dies ist, wohlgemerkt, eine Konstruktion der beratenden
Kommunikation selbst, unterscheidungstheoretisch gesprochen die Form
der Beratung, deren Innenseite die Beratung ist, ihre Außenseite das
Problem. Etwas übertrieben gesprochen: Jegliche Beratung löst Probleme,
die es ohne sie nicht gäbe. Sie spannt nicht nur den Horizont der
Lösung auf, sondern auch den des Problems, für das sie sich allein als
Lösung präsentieren kann. Diese Form ist asymmetrisch gebaut. Wie
pädagogische Kommunikation auch dann den Index der Asymmetrie in sich
trägt, wenn der Lehrer bewusst auf seine Lehrerrolle verzichten möchte,
ist auch Beratung, die behauptet, nicht zu beraten, sondern etwa nur
Anstöße zu geben oder die zu Beratenden selbst entscheiden zu lassen,
nichts anderes als dies: Beratung, also asymmetrisch.
Dennoch ist in dieser Asymmetrie der Berater von seinem Klient
abhängig, denn die entscheidende Komponente der Kommunikation ist die
Anschlussfähigkeit, also die Bedingung der Annahme der
Kommunikationsofferte, bei der auch ein kontinuiertes „Nein“ für
Anschlussfähigkeit sorgt, wenn es sich nur kontinuiert. Es geht also um
Anschlussfähigkeit. Das verweist auf die merkwürdig paradoxe Situation,
dass es letztlich der Rat Suchende ist, der darüber entscheidet,
welcher Rat anschlussfähig ist, nicht der Rat Gebende. Denn nur der
Suchende kann letztlich über die Anschlussfähigkeit entscheiden, nicht
der Ratgeber selbst – was genau genommen eine zu einfache Formulierung
ist. Denn auch der Beratungsbedarf wird durch die Form der Beratung
hervorgebracht. Im Sinne des Luhmannschen Kommunikationsbegriffs
entscheidet also weniger die Komponente der Information über den Erfolg
eines Ratgebers, sondern das Verstehen. Und das heißt nichts anderes
als: die Anschlussfähigkeit des Rates. Erst vor diesem Hintergrund wird
deutlich, dass die Folge von (zu) viel Rat letztlich Ratlosigkeit ist.
Die Bearbeitung des Verlustes von Kontingenzschutz kommt selbst
kontingent daher. Wer auf Rat angewiesen ist, wird irgendwann auf das
Problem stoßen, sich dahingehend beraten lassen zu müssen, welchen Rat
er nun annehmen soll.
Der Vorteil der Systemtheorie für Beratungskontexte dürfte wohl sein,
eine realistischere, weil eben nicht am Heldensubjekt ansetzende
Kommunikationsform anzubieten, die die Beratung einer bestimmten Praxis
selbst als Praxis ansieht.
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