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Kurt Ludewig über Niklas Luhmann
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In welchem Zusammenhang bist Du erstmals dem Namen, der Person oder dem Werk Niklas Luhmanns begegnet? Und welchen Unterschied hat diese Begegnung für Dich persönlich gemacht?
KL: So weit ich es rekonstruieren kann, hörte ich erstmals von Luhmann
um 1982-83, als ich anfing, über die theoretischen Grundlagen der
systemischen Therapie nachzudenken. Mich beeindruckte damals der Disput
mit Habermas um die Frage der „Sozialtechnologie“. Später, als das
Hauptwerk „Soziale Systeme“
herauskam, begann ich zu begreifen, dass
Luhmanns Vorschläge die Fähigkeit hatten, die systemische Therapie,
besser: die Psychotherapie schlechthin in den Bereich des Sozialen zu
integrieren und so aus der Enge naturwissenschaftlicher Vorgaben zu
befreien. Es sollte jedoch einige Zeit dauern, bis ich mich in die Lage
versetzen konnte, seine Diktion überhaupt zu verstehen. Gerade hatte
ich die Mühen auf mich genommen und halbwegs gemeistert, Maturana zu
verstehen, und nun auch noch Luhmann? Das war zunächst für einen
theoretisch interessierten Praktiker etwas viel verlangt. 1986 lernte
ich ihn am Rande einer Heidelberger Veranstaltung persönlich kennen.
Anfang der 90er Jahre luden wir ihn mehrmals zu unserem Institut nach
Hamburg ein. Im Rahmen der Vorbereitungen zu meinem 1992 erschienenen
Buch „Systemische Therapie“
nahm ich direkten Kontakt mit ihm auf und bat ihn um eine Stellungnahme
zu dem Kapitel, das ich darin seinem Denken gewidmet hatte. Seitdem bin
ich sozusagen ein Luhmann Fan geworden – aber kein Adept.
Welches seiner Werke hat eine besondere Bedeutung für Dich und warum?
KL: Naturgemäß „Soziale Systeme“
– das ramponierteste Buch in meinem Regal. Noch nie war ich so wütend
über ein Buch geworden, denn ich verstand zwar die Worte, jedoch nicht
den Sinn. Ich kam mir dumm und unbeholfen vor, so flog das Buch
mehrmals gegen die Wand. Langsam begann ich aber, es zu begreifen, und
es wurde von da an ein immer reichhaltiger und unausschöpfbarer Fundus
an guten Gedanken. Alles was von Luhmann danach kam, war in diesem Werk
schon angelegt, sogar das zweibändige „Gesellschaft der Gesellschaft“.
Die Vereinbarung der sozialen Gedanken Luhmanns und der biologischen
Gedanken Maturanas wurde zu einem meiner Hauptanliegen in Sachen
Wissenschaft. Spätestens seit Luhmann denke ich, dass wir in
Deutschland - wieder einmal - einen beträchtlichen theoretischen
Vorsprung gegenüber angelsächsischen und anderen Autoren haben. Vieles,
was innovative Therapeuten wie Goolishian und de Shazer sich ausgedacht
haben, findet eine solide theoretische Basis in Luhmanns Theorien. Die
mancherorts geübte Kritik an seiner Arbeit, dass sie für die Praxis
unergiebig sei, finde ich deplatziert. Ich orientiere meine Praxis ganz
wesentlich an seinen Gedanken über Kommunikation und soziale Systeme.
Ob man Maturana bei der Kritik folgen soll, dass Luhmanns Einbeziehung
des Autopoiese-Konzepts zur Erklärung sozialer Systeme dieses
ursprünglich auf den Molekularbereich eingestellte Konzept inhaltlich
verkürze und methodologisch verwässere, ist meines Erachtens
Geschmacksache. Persönlich habe ich diesen Widerspruch dadurch gelöst,
dass ich auf die Nennung der Autopoiese im sozialen Bereich verzichte,
den Grundgedanken aber, das Systeme ihre Komponenten selbst erzeugen,
beibehalte.
Gab es persönliche Begegnungen mit Luhmann und, wenn ja: welche sind Dir besonders in Erinnerung geblieben?
KL: Ja, einige. Mich beeindruckte immer die Bescheidenheit, mit der
er mit seinen etwas zu kurz geratenen Jackettärmeln auftrat und leise
sprach. Ihm in einem kleinen Zuhörerkreis beim Antworten auf Fragen zu
hören, war eine totale Entschädigung für die vielen Stunden der
Verzweiflung an seinen Texten. Er bemühte sich nicht, verstanden zu
werden, dafür war er zu (alt)europäisch (arrogant?), aber er erklärte
so, dass es verstanden werden konnte. Wieso? Ich meine, weil er nicht
über das Denken von irgendwem sprach, sondern über sein eigenes.
So wurde es eine persönliche Berichterstattung und keine Vorlesung.
Hierauf bezogen, sagte er mir einmal, wie furchtbar er manche Texte
seiner Schüler fand, die so um Verständlichkeit bemüht seien. Das
empfand er als billige Anbiederung.
In Erinnerung sind mir besondere Situationen geblieben, eher Anekdoten
– nur: ich bin Therapeut und an Menschen und Menschlichem besonders
interessiert. Die eine war, als eine erlesene Gruppe von „Systemikern“
in Luhmanns Auto nach Helm Stierlins Haus in Heidelberg suchten. Hätte
man die Szene gefilmt, in der sie (wir) alle über der Straßenkarte
gebeugt, diskutierten, wie man die Karte zu verstehen hätte, wäre dies
ein tolles Beispiel für soziale Systeme, Kommunikationshindernisse,
Problemsysteme, Konstruktivismus oder auch für den etwas vertrottelten
Umgang von Gelehrten mit nackter Wirklichkeit. Und plötzlich entschied
sich der sonst eher weltfremd wirkende Niklas Luhmann, auf niemand mehr
zu hören. Er fuhr fort und fand das Haus um die nächste Ecke.
Inwiefern können Mitglieder der
beratenden Professionen (Psychotherapie, Beratung, Supervision etc.)
von der Lektüre der Werke Luhmanns aus Deiner Sicht profitieren - und
wie würdest Du die Antwort begründen?
KL: Ob die meisten mit der Lektüre schwieriger Texte unvertrauter
Praktiker direkt von dem Werk Luhmanns profitieren können, sei dahin
gestellt. Ich zweifele daran, zumal die Einübung in deren Lektüre zu
aufwendig ist. Es gibt aber mittlerweile eine Anzahl von Texten, die
gewissermaßen Luhmann für Praktiker „prozessiert“ haben. Von dieser
Lektüre würde ich einen immensen Gewinn erwarten. Denn noch einmal:
Luhmanns Kommunikationstheorie integriert und normalisiert
Missverständnisse und bietet daher die meines Erachtens beste
theoretische Erklärung für das Entstehen von Poblemsystemen; seine
Theorie sozialer Systeme lässt sich problemlos verarbeiten zu einer
Theorie therapeutischer Systeme, usw. Was daran fehlt, wie Ciompi und
andere kritisch angemerkt haben, nämlich die Emotionen, ist meines
Erachtens unerheblich. Denn die Einbeziehung der Emotionen, um klinisch
relevante Probleme zu erklären, kann nicht Sache eines Soziologen sein.
Es liegt an uns Therapeuten, diesen wichtigen Aspekt einzubeziehen.
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