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Tom Levold über Niklas Luhmann
Niklas Luhmann habe ich zu meinem Bedauern nie persönlich kennen gelernt. Ich konnte  ihn einige Male als Vortragenden erleben (z.B. auf dem Heidelberger Kongress zum „Ende der großen Entwürfe“ 1986 oder auf der DAF-Tagung in Hamburg 1984), eigentlich ambivalent zwischen Bewunderung für seine theoretische Konzessionslosigkeit gegenüber seinem therapeutischen und wohl mehrheitlich etwas theoriefaulem Publikum einerseits und Irritation in Bezug auf seine mitlaufende spröde Distanz andererseits pendelnd, die vielleicht damals noch eine gewisse Verwunderung zum Ausdruck brachte, wieso ausgerechnet er zur systemischen Galionsfigur erkoren worden ist.
Seine Bücher habe ich aber schon etwa ab 1975 zur Kenntnis genommen. Damals war ich (seit 1973) Student der Sozialwissenschaften in Bochum und neben dem Studium der marxistischen Klassiker gänzlich der Kritik bürgerlicher Wissenschaften verpflichtet. Diese Verpflichtung, der ich schon als lesender linksradikaler Schüler frönte, führte anfänglich allerdings keinesfalls, wie man eigentlich denken sollte, zu einer ausgedehnten Lektüre bürgerlicher Wissenschaften. Vielmehr erschien mir das gerade aufgrund der ausgedehnten Lektüre der Kritiker als reine Zeitverschwendung, womöglich auch als eine etwaige ideologische Verunreinigung, der ich mich keinesfalls aussetzen wollte. Da ich in dieser Hinsicht ziemlich radikal war, erschien mir auch Jürgen Habermas (von nichtakademisch orientierten Kommilitonen auch gerne „Jürgen Laberwas“ gerufen) schon ziemlich bürgerlich, aber gerade noch tolerabel, weil auch er Einwände gegen das „System“ erhob. Als ich das Suhrkamp-Taschenbuch mit der berühmten Habermas-Luhmann-Debatte unter dem von Habermas zurechtideologisierten Titel „Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie“ in die Hände bekam, wusste ich also schon vorher, wer Recht hatte, bekam aber dafür auch erstmals Luhmann zu lesen. Meine Unterstreichungen und Randbemerkungen von damals zeigen mir heute, dass mich seine Texte merklich beeindruckten. Überrascht hatte mich vor allem meine plötzliche Einsicht, dass bürgerliche Wissenschaftler nicht nur aus reiner Dummheit oder Unwissenheit bürgerliche Theorien verzapften, sondern dass sie sogar ihre Kritiker zur Kenntnis nahmen (was ich mir offensichtlich noch nicht leisten konnte) und dennoch noch Kluges zu entgegnen wussten, ohne entgeistert zu kapitulieren. Das entwaffnete mich unvorhergesehenerweise.
Diese Leseerfahrung verhalf mir also, meine entgegen meiner Selbsteinschätzung doch recht denkfaule, bornierte Haltung abzulegen, die es mir erlaubt hatte, alle Bücher zu ignorieren, die meine vorgefertigte Meinung hätten in Frage stellen können. Was nicht heißen soll, dass ich nun meine vorgefertigte Meinung von heute auf morgen aufgegeben hätte. Immerhin fing ich nun an, mich intensiver mit Luhmann und der Systemtheorie zu beschäftigen, was allerdings nicht ohne „Verunreinigungen“ abging. Die Lektüre machte mir immerhin zunehmenden Spaß und auf der Suche nach kritikwürdigen Stellen spürte ich erstmals so etwas wie eine eigenständige wissenschaftliche Ambition, was auch zu einer gewissen inhaltlichen Emanzipation von meiner ideologischen peer group führte, die für solche Studien noch keinen Sinn entwickelt hatte.
In neun Monaten intensiver Arbeit arbeitete ich 1977 für meine Diplomarbeit alle Luhmann-Veröffentlichungen durch (auch damals schon eine hübsche Menge) - das Ergebnis war der (im doppelten Sinne) etwas geschwollene, aber auch aus meiner heutigen Sicht noch akzeptable Versuch einer Kritik der „Luhmannschen Systemtheorie als Theorie sozialer Kontrolle“.
Nach dem Studium geriet ich nun recht schnell und ohne eigenes Zutun in familientherapeutische Kreise und bekam die Euphorie über die „kopernikanische Revolution in der Psychotherapie: der Wandel vom psychoanalytischen zum systemischen Paradigma“ (G. Guntern, Familiendynamik 1980/1, S. 2-41) von Anfang an mit. Hier stellte sich nicht mehr so sehr die Frage nach der großen Systemkritik, sondern eher nach der Brauchbarkeit der Systemtheorie für eine hilfreiche Praxis. Luhmann spielte dabei zunächst überhaupt keine Rolle.
1983 fand ich in der gerade neu von Jürgen Hargens gegründeten Zeitschrift für systemische Therapie, die mich aufgrund ihrer rein systemtheoretischen Konzeption in Euphorie versetzte, einen Aufsatz von Wolfram Köck über Humberto Maturanas und Francisco Varelas „Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit“, der mich elektrisierte. Ich las das Buch auf einem - nicht zuletzt deshalb - unvergesslichen Wanderurlaub in England und war von dieser neuen Theorie autopoietischer Systeme völlig elektrisiert, die auch in die systemische Therapieszene wie der Blitz einschlug.
Im Jahr darauf erschien das Buch Luhmanns über „Soziale Systeme“ und ich war von dem für mich sofort erkennbaren fundamentalen Wechsel, den Luhmann in seinem Theorieaufbau von den Themen der Bestandserhaltung und Steuerung hin zur Konzeption der Autopoise sozialer Systeme vollzogen hatte, fasziniert, auch wenn ich zunächst keinen Transfer in die therapeutische Praxis erkennen konnte. Zudem kam mir die Beschränkung des Autopoiese-Konzeptes auf lebende Systeme bei Maturana wesentlich plausibler vor.
Umso überraschender empfand ich den Siegeszug von Luhmann zum meistzitierten Autor in den deutschsprachigen familientherapeutischen Zeitschriften bereits im Jahre 1987! Zumal ich den Eindruck hatte, dass die Masse der Zitationen gar nicht einer wirklichen Auseinandersetzungen mit der Luhmannschen Theorie entstammten, sondern eher eine Ausschmückung des Textes oder eine allgemeine Referenz an die Systemtheorie zum Ausdruck brachten, so wie der Name Sigmund Freud lange Zeit in keiner psychoanalytischen Arbeit fehlen durfte. Seiner Idee - in Abgrenzung zu Maturana formuliert -, dass soziale Systeme nicht aus Menschen bestehen, sondern nur aus Kommunikationen, stand ich zudem lange ambivalent gegenüber, auch wenn ich ihre heuristische Reichweite einzuschätzen wusste: Plausibilitätsempfindungen wechselten ständig mit Zweifeln ab.
Mittlerweile kann ich diesem Ansatz (als einer von mehreren möglichen  Perspektiven) gerade mit seiner Fokussierung auf die Differenz von System und Umwelt und der Beobachtung als zentrale Operation von sozialen Systemen auch für die beraterische Praxis eine Menge abgewinnen. Wie beobachten die Systeme, die wir als BeraterInnen oder TherapeutInnen beobachten, sich selbst und ihre Umwelt? Wie werden diese Beobachtungen kommuniziert? Wie beobachten wir diese Beobachtungen und Kommunikationen? Wie beobachten die beobachteten Systeme unsere Beobachtungen und Kommunikationen (Interventionen)? Welche Codierungen werden benutzt, um Probleme zu markieren? Wo kreuzen sich unterschiedliche Codes (Wahrheit, Liebe, Geld, Macht), um Konfliktlagen und ihre Auflösungen zum Ausdruck zu bringen? Die Perspektive Luhmanns bringt gewissermaßen immer ausreichend abstrakte Gesichtpunkte in meine eigene Beobachtungstätigkeit hinein, um generalisieren und vergleichen zu können, sich also nicht nur - emotional naheliegend - der konkreten Beziehungssituation ausgeliefert fühlen zu müssen.
Mithilfe dieser Fragen kann es mir daher gelingen, auch in komplizierten Gesprächssituationen eine Metaebene zu konstruieren und Interesse und Neugier auch dann zu wecken oder aufrecht zu erhalten, wo sich auf der affektiven Ebene Ärger, Angst oder Abscheu einstellen.
Womit ich nach wie vor größere Schwierigkeiten habe, sind die Versuche, eine Theorie psychischer Systeme vom Luhmannschen Ausgangpunkt aus zu entwickeln. Ihr Problem sehe ich darin, dass die meisten Autoren eigentlich - mit einem ordentlichen Aufwand an begrifflicher Akrobatik - versuchen, den Platz zu füllen, den die Theoriestruktur von Luhmann für „Psychisches“ vorsieht - und das ist erst einmal kein besonders prominenter Platz. Luhmann ist als Soziologe ja nicht besonders an psychischen Phänomenen interessiert gewesen, er war wohl auch nicht der Meinung, dass seine Theorie eine Psychologie fundieren oder gar ersetzen könnte oder sollte. Wenn wir als TherapeutInnen oder BeraterInnen auch die Arbeit mit psychischen Systemen zu unserem Praxisfeld rechnen, kommen wir nicht allzu weit, wenn wir darunter nur die Aneinanderkettung von Gedanken und Bewusstseinsakten verstehen, die mit Kommunikationen in sozialen Systemen strukturell gekoppelt sind. Für eine soziologische Beobachtung dessen, was in einem sozialen System der Fall ist, mag das ausreichen, für eine psychologische nicht. Aus diesem Grund muss sich eine psychologische Systemtheorie auch von solchen begrifflichen Vorgaben befreien können - ob das dann wieder zu Luhmann zurückginge oder nicht, müsste sich erweisen. Eine analoge Schwierigkeit sehe ich in der völligen Ausblendung des Körpers als „Sozialorgan“ und seine Reduzierung auf ein organisches Substrat, das bei Luhmann nur als Bezugsgröße für sprachliche Kommunikation von theoretischem Interesse ist. Eine solche Entscheidung hat eben auch Folgen für die eigene Beobachtungstätigkeit und: für das, was man dann nicht mehr beobachten kann, z.B. die nicht-sprachlichen Formen von Sozialität und Kommunikation, die bereits lange vor der Emergenz sprachgesteuerter sozialer Systeme konkrete Interaktion von Anwesenden als auch die Koordination der Handlungen größerer Populationen bewerkstelligen konnten.  
Hier könnten systemische TherapeutInnen mit ihrem eigenen Blick auf psychische, körperliche und soziale Wechselwirkungen durchaus relevante Beiträge zu einer Weiterentwicklung systemischer Theorie leisten, ohne in den Luhmannschen Begriffsvorgaben zu verharren. Der größte Fehler aus meiner Sicht besteht daher darin, aus Ehrfurcht vor dem gewaltigen Umfang das Werk Luhmanns nun zu kanonisieren und die weitere Theorieentwicklung in Exegese versumpfen zu lassen. Die psychoanalytische Literatur hat sehr lange gebraucht, um sich von der Kanonisierung des Freudschen Oevres zu emanzipieren.
Alle diese Fragen hätte ich schon gerne einmal mit Luhmann selbst diskutiert, und die Einladung, als Diskutant am dem mittlerweile berühmten Heidelberger Symposium zum Thema „Lebende Systeme“ mit Luhmann, Maturana und Heinz von Foerster Mitte der 80er Jahre mitzuwirken, begeisterte mich, zumal ich Humberto Maturana und Heinz von Foerster schon persönlich kannte. Dass ich dann aufgrund einer Grippe mit hohem Fieber kurzfristig absagen musste, hat mich maßlos enttäuscht und betrübt mich immer noch, zumal mir die Lektüre der mittlerweile gedruckt vorliegenden Erinnerungen von Kollegen und Schülern den Eindruck vermittelt hat, dass Luhmann durchaus nicht immer so spröde war, wie er es im ersten Eindruck vielleicht glauben machen wollte. Auch wenn eine „Interaktion unter Anwesenden“ nicht zustande gekommen ist, hat doch die Kommunikation mit seinen Texten enorme Folgen für meine Wahrnehmung sozialer Sachverhalte gehabt. Das ist immerhin besser als manche folgenlose Interaktion unter Anwesenden.



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