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Verena Kuttenreiter: Luhmann respektloser lesen
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In welchem
Zusammenhang bist Du erstmals dem Namen, der Person oder dem Werk
Niklas Luhmanns begegnet? Und welchen Unterschied hat diese Begegnung
für Dich persönlich gemacht?
Ich bin Luhmann (dem Namen und dem Werk) zu Beginn meines
Soziologiestudiums in einem Theorieseminar erstmals begegnet. Die
Begriffe "Systemtheorie" und "Luhmann" haben so klar und rein in meinen
Ohren geklungen, dass ich mich damit näher beschäftigen wollte. Für
mich persönlich gab es erfreulicherweise plötzlich die
wissenschaftliche Fundierung von meiner privaten Annahme, dass alles
nicht so einfach ist, schwierige Sachverhalte auch eine
dementsprechende Formulierung benötigen und dass man sich vor
übereiltem Engagement hüten sollte.
Welches seiner Werke hat eine besondere Bedeutung für Dich und warum?
Ich kenne nur zwei Werke ganz: "Soziale Systeme" und "Liebe als Passion".
Mit "Soziale Systeme" habe ich viel mehr Zeit verbracht,
daher ist es mir auch mehr ans Herz gewachsen. Mich haben zu
Beginn auch am meisten die (nahezu
philosophischen) Grundlagen der Theorie interessiert.
Gab es persönliche Begegnungen mit Luhmann und, wenn ja: welche sind Dir besonders in Erinnerung geblieben?
Nein.
Inwiefern können Mitglieder der
beratenden Professionen (Psychotherapie, Beratung, Supervision etc.)
von der Lektüre der Werke Luhmanns aus Deiner Sicht profitieren - und
wie würdest Du die Antwort begründen?
Meiner Ansicht nach kann man von Luhmann dann profitieren, wenn man ein
Interesse an Sozialwissenschaft hat und über ein gewisses fachliches
(soziologisches) Vorwissen verfügt. Hat man beides als
TherapeutIn/BeraterIn nicht, halte ich die Ausbeute für gering bis kaum
vorhanden. Wissenschaft ist eine Sache und Therapie ist eine andere und
es kann nur zu Enttäuschung führen, sich durch die Lektüre Luhmanns
konkrete Antworten auf therapeutische Fragen zu erwarten.
Mein Eindruck vom Großteil der Bemühungen, Luhmann auf
Therapiepraktikabilität „hinunterzutransferieren“ ist dann auch, dass
es bei Begriffsübernahmen und Bezugnahmen auf systemtheoretische
Prämissen wie Autopoiesis, Geschlossenheit psychischer und sozialer
Systeme etc. bleibt. Die Referenz auf Luhmann ist dabei allemal zu
Legitimationszwecken der systemischen Therapie sinnvoll – Luhmann ist
immerhin anerkannter Sozialwissenschaftler -, sie scheint aber eher zur
Positionierung nach außen (z. B. zur Unterscheidung von anderen
Therapierichtungen) dienlich gewesen zu sein, als dass intern
entscheidende Funken gezündet werden konnten.
Meiner Ansicht nach liegt das daran, dass die Systemtheorie durch ihre
paradoxe Bauweise einer konstruktiven Kritik von innen den Boden immer
wieder entzieht und damit Auseinandersetzung und Weiterentwicklung sehr
schwer macht. So stehen sich Faszination auf der einen Seite und Kritik
(sei es formale, bezogen auf die Abstraktionsanforderungen oder
inhaltliche, bezogen auf Machtstabilisierung, Relativismus, etc.)
beharrlich gegenüber. Und nach Jahren und hunderten Stunden des
Bemühens darf man als wohlwollende Leserin Luhmann, denke ich, doch
auch einen Teil der Schuld daran anlasten. Er hat eine beeindruckende
und schwer einnehmbare Festung errichtet.
Das soll nun aber alles nicht gegen eine Lektüre Luhmanns sprechen, im
Gegenteil. Ich halte es für sehr begrüßenswert, wenn sich
TherapeutInnen – und schon gar systemische(!) – für gesellschaftliche
Zusammenhänge, in die jede Therapie eingebettet ist, interessieren und
auch Therapie als gesellschaftliches Phänomen mitreflektieren (also
noch heraustreten können aus ihrer Perspektive und Lebens- und
Handlungsweisen auch noch nach anderen Kriterien beurteilen können als
nach therapeutischen). Luhmann hat wesentlich zur Auflösung von
linear-kausalen Verführungen unseres Denkens und zum Siegeszug
systemischer Sichtweisen beigetragen, und das ist einigen
TherapeutInnen zu verdanken, die sich die Mühe der Lektüre und der
„Übersetzung“ gemacht haben. Aber was jetzt? Meiner Ansicht nach ist es
Zeit, Luhmann respektloser zu lesen und vor allem auf sein kritisches
Potential hin zu lesen, um ihn mit anderen kritischen Ansätzen zu
kontrastieren, aber auch zu verknüpfen. Aus der Vorsicht heraus, nur ja
keinen theoretischen Verstoß gegen Luhmann zu begehen, könnte einiges
an Entwicklungspotential verschenkt worden sein. Aber ohne eine
Auseinandersetzung mit Fragen von Macht und sozialer Ungleichheit wird
es für meine Begriffe heutzutage ein bißchen wirklichkeits- und damit
auch therapiefremd.
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