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Rudolf Klein: zu Niklas Luhmann
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Meine erste Begegnung mit Niklas Luhmann war eine
indirekte: Ich besuchte eine langjährige Freundin, die Ende der 70er
bis Anfang der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts in Wuppertal
Sozialwissenschaften studierte. Ich hatte damals gerade mein eher
praxisorientiertes Studium der Sozialpädagogik beendet, war voller
Tatendrang, jedoch auch neugierig auf Theoriebildungen
unterschiedlicher Art. Bei Durchsicht der dort vorhandenen Literatur
stieß auf Werke von Niklas Luhmann. Ich kann mich heute nicht mehr
daran erinnern, um welche Publikationen es sich handelte. Auf die
Frage, was das denn sei, bekam ich nur die Antworten: „Erzreaktionäres
Zeug.“ Und: „Nicht zu verstehen.“ Kurz: „Unlesbar.“ Das war genug
für mich. Ich war abgeschreckt.
Umso überraschter war ich, als mir Niklas Luhmann zum zweiten Mal
begegnete. Auch dieses Mal indirekt: Ich hatte gerade, es war 1986,
einen zweijährigen Grundkurs in systemischer Therapie mit dem
Schwerpunkt „Sucht“ bei einem gewissen Gunthard Weber abgeschlossen.
Auch hatte ich, da mich dieser Ansatz faszinierte, mehrere zweitägige
Supervisionsseminare in Wiesloch besucht. Dort bekam ich die
Ankündigung eines Forums mit dem Titel „Lebende Systeme“ der IGST zu
Gesicht. Als Referenten waren genannt: Heinz von Foerster, Francisco
Varela und eben dieser „erzreaktionäre“ Niklas Luhmann. Theoriehungrig
war ich noch immer und vielleicht hatte ich die Idee, die beiden
anderen Referenten würden das „zu reaktionäre“ schon irgendwie
auszugleichen wissen. Also meldete ich mich an.
In Heidelberg sah ich ihn dann zum ersten Mal persönlich. Ich erinnere
mich, als ob es heute gewesen wäre: Er hielt für alle TeilnehmerInnen
dieses Forums und für interessierte Gäste am Abend des ersten Tages im
Hörsaal 13 der Neuen Universität einen Vortrag mit dem Titel: „Was ist
Kommunikation?“ Was ich da hörte, war – im wörtlichen Sinne – fast
unbeschreiblich, und ich habe es überwiegend als eine körperliche
Erfahrung abgespeichert. Ich war wie elektrisiert,
aufmerksamkeitsfokussiert, verwirrt und klar zugleich. Ich ging aus
diesem Vortrag mit Gedanken und Gefühlen, die gar nicht alle in meinen
Kopf bzw. meinen Körper zu passen schienen. Ich glaubte, sehr viel
verstanden zu haben, sah mich jedoch außerstande, einen einzigen Satz
zusammenzubringen, der Teile der soeben gehörten Gedanken auch nur
annähernd in einen sinnvollen Zusammenhang gebracht hätte.
Natürlich hatte ich den Versuch unternommen, irgendwelche Gedanken zu
notieren. Diese damals von mir angefertigten Aufzeichnungen habe ich
aufbewahrt und sie nun noch einmal durchgelesen. Ich lese, dass
Kommunikation eine Selektion von Information, Mitteilung und Verstehen
sei. Dass drei Arten von Autopoiesis unterschieden werden sollten:
Leben, Bewusstsein und soziale Kommunikation. Dass eine
Deckungsgleichheit zwischen Bewusstsein und sozialer Kommunikation
oftmals nicht möglich sei, ebenso wenig eine wie eine
Deckungsgleichheit zwischen Bewusstsein und Leben. Und schließlich,
dass der Begriff der „Interpenetration“ die Interaktion zwischen
autopoietischen Systemen bezeichnet und eine „doppelte
Kontingenz“ in der sozialen Kommunikation berücksichtigt und
unterstellt werden soll. Hier brechen meine Aufzeichnungen ab. Heute
glaube ich, dass das für die erste Begegnung mit Niklas Luhmanns Denken
gar nicht so schlecht war. Offensichtlich hatte ich einiges verstanden
– und vieles nicht.
Ab diesem Ereignis musste ich Luhmann lesen. Ich begann mit dem Buch
„Soziale Systeme“. Was heißt lesen? Ich musste mir die Texte
erarbeiten, erkämpfen, mich durchbeißen und gleichzeitig widmete ich
mich der Lektüre mit Lust. Manchmal musste ich vor den für mich nicht
verstehbaren Gedanken kapitulieren und öfter über gelegentlich
aufblitzende humorvolle Passagen schmunzeln. Immer war es jedoch ein
ganzkörperliches Erlebnis.
Auch bei der Lektüre weiterer seiner Publikationen, wie z.B. „Liebe als
Passion“, „Die Wissenschaft der Gesellschaft“, „Die Gesellschaft der
Gesellschaft“, „Einführung in die Systemtheorie“ und kürzlich erst die
„Einführung in die Theorie der Gesellschaft“, habe ich Luhmanns
gedankliche Brillanz genossen und schätzen gelernt. Als Praktiker, der
sich für Theorie interessiert (und nicht umgekehrt), erlaube ich mir
dazu einige kleine Bemerkungen.
Ich glaube, dass Niklas Luhmanns Beitrag für die Entwicklung der
systemischen Therapie nicht zu unterschätzen ist. Seine Übertragung der
Theorie autopoietischer Systeme in die Soziologie, trotz Maturanas
Bedenken, und hier v.a. die konsequente Unterscheidung biologischer,
psychischer und sozialer Systeme als jeweils autonom operierender
Systeme, die füreinander als Umwelten fungieren, finde ich
hochinteressant.
Für mich erwuchs daraus eine gedankliche Klarheit, die mir beim
Schreiben und bei der Analyse therapeutischer Prozesse sehr hilfreich
war. Dass sich im Laufe der Zeit auch die Begrenzungen dieses
Theorieentwurfs zur Interpretation bestimmter Phänomene (z.B. des
süchtigen Trinkens) in meinem therapeutischen Alltag zeigten, soll
nicht unterschlagen werden. Dennoch waren genau diese
„Erklärungsnotstände“ Anlässe, auf die Suche nach Ergänzungen zu diesem
Theoriegebäude zu gehen, ohne dass damit die Bedeutung dieses Ansatzes
für mich geschmälert worden wäre. So griffig diese Theorie war, um die
Selbstorganisationsdynamik süchtigen Trinkens zu interpretieren, so
wenig war sie mir bei der Frage hilfreich, warum einige Menschen
süchtig trinken, andere hingegen nicht. Diese Erklärungslücke konnte
ich durch Verwendung anderer, z.B. anthropologischer Modelle, (vorerst)
schließen.
Es konnte mir nicht verborgen bleiben, dass Niklas Luhmann – fast
gebetsmühlenartig – der Vorwurf gemacht wurde (und wird), er
werfe aufgrund seiner spezifischen System-Umwelt-Differenz den Menschen
aus seinem Konzept. Bis heute beschleicht mich allerdings der Eindruck,
so einleuchtend dieser Vorwurf auf den ersten Blick wirken mag, dass
dafür, bei genauerem Hinsehen, nicht nur theoretische
Missverständnisse, sondern auch eine gewisse Unkenntnis Luhmanns Werk
verantwortlich sein könnte.
Luhmann baut seine Theorie auf Differenzen auf und definiert seine von
ihm selbst vorgenommene Voraussetzung für die Entwicklung dieser
Theorie. Seine Unterscheidung ist die, soziale von psychischen und
biologischen Systemen zu unterscheiden.
Mit dieser Grundunterscheidung wird der Mensch zur Umwelt des sozialen
Systems. Er ist somit „draußen“. Allerdings ergibt sich aus der Einheit
der Differenz von System und Umwelt, dass „draußen“ nicht etwa
„überflüssig“, „unbedeutend“ oder gar „vernachlässigbar“ heißen kann.
Der Mensch hat einen expliziten Wert innerhalb der Theorie. Er ist
„draußen“ und „drinnen“ zugleich. Wie wäre es auch sonst erklärbar,
dass ich Verwirrung, Verzweiflung, Lust und Humor bei der Lektüre und
bei Diskussionen über Luhmanns Theorie erlebt habe? Immerhin handelt es
sich dabei um Wortbezeichnungen, die auf psychische und biologische
Vorgänge schließen lassen.
Natürlich lag die Stärke Luhmanns in seiner differenzierten Analyse
sozialer, d.h. sich der Operation „Kommunikation“ bedienender Systeme.
Schließlich war er Soziologe. Und sicher blieben in seiner Analyse das
psychische und das biologische System vergleichsweise unterbelichtet.
Allerdings provoziert dieser Umstand, gerade an den Schnittstellen von
biologischen, psychischen und sozialen Systemen (an den Orten, an denen
Psychotherapie operiert), adäquatere Beschreibungen zu entwickeln, als
dies der Begriff der strukturellen Koppelung bislang anzubieten vermag.
Differenzierte Konzepte liegen bereits vor und es zeichnen sich neue
und interessante Entwicklungen wie z.B. in der Affektforschung und in
einigen Arbeiten zur Hirnphysiologie ab.
Wenn diese Ansätze Antworten auf Fragen liefern, die Niklas Luhmanns
Konzept sozialer Systeme aufgeworfen hat, wäre dies gewinnbringend
sowohl für therapeutische Theoriebildungen als auch für die
therapeutische Praxis. Gleichzeitig würde dies aber den Wert und die
Bedeutung von Niklas Luhmanns Denken für die Weiterentwicklung der
systemischen Therapie belegen und würdigen.
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