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Joachim Hesse: Das Spiel mit den Vorzeichen von Beobachtungen
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Von Niklas Luhmann habe ich zum ersten Mal
gehört, als ich vom süßen Gift des Empörungsgenusses kritischer Theorie
betäubt war. Also: direkt wieder weggehört.
Glücklicherweise habe ich gemerkt, dass Kritik auch eine Form / ein
Medium sein kann, die Verhältnisse dadurch zum Tanzen zu bringen, indem
mit den Vorzeichen von Beobachtungen (Beschreibungen, Erklärungen,
Bewertungen) gespielt wird. Dies bedeutet zum Beispiel auch mit den
Vorzeichen der Beobachtungen von Diagnosen (siehe Thesenpapier) so zu
spielen, dass anschließend Patient und Therapeut weiterspielen können.
Deswegen verstehe ich meinen Luhmann-Beitrag als einen Beitrag zur
Selbstsorge und auch als einen Beitrag zum Schiller-Jahr: „Der Mensch
ist nur ein Mensch, wenn er spielt“ (Schiller).
Luhmann ist für mich ein Autor, der meine Spielfreude in der Therapie
massiv erhöht. Manchmal reicht dafür schon ein Satz, den ich durch ein
zufälliges oder überzufälliges Aufschlagen eines seiner Bücher lese. Je
höher diese homöopathischen Dosen sind, umso freier der Kopf und das
Herz.
Kritik bezogen auf die Markierung „Komorbidität“ bedeutet, dass diese
Markierung auch anders markiert werden kann. Dies ist allerdings nur
dann möglich, wenn man bereit ist mit den Vorzeichen des Blickwinkels
zu spielen und die Form der Unterscheidung daraufhin zu beobachten,
dass auch eine andere Unterscheidungsperspektive gewählt werden kann.
Kritik als Kunst, Handhabung und Beobachtung von Unterscheidungen ist
damit eine Form des Spielens, aber keine Spielerei.
Betrachtet man wie Luhman „System als Differenz“ und die Bildung und
Handhabung von Unterschieden als Quelle der Kraft, kann systemische
Therapie zu etwas führen, was ich als Differenzielle
Ressourcenaktivierung beschreibe. Differenziell bedeutet dann, beide
Seiten einer Unterscheidung oder keine der beiden Seiten der
Unterscheidungen zu beobachten und zu wählen oder einen Jocker: „dies
alles nicht und selbst das nicht“ (Varga von Kibéd) zu wählen. Schön
ist, wenn sich in der Therapie aus dieser Reflexionsfigur eine Resonanz
der Differance vollzieht.
Trotz meiner Begeisterung für’s Systemische finde ich die Zuordnung von
Personen zur Umwelt eines Systems eher verwirrend und komisch als
nützlich. Was und wo ist der Witz dieser Komik? Wenn ich diese
Zuordnung sehr ernst nehmen würde, könnte ich theoretisch nicht klar
begründen, wie ich personale Systeme beraten kann, die zur Umwelt des
Systems Therapie oder Beratung gehören.
Im Sinne einer negativen Anthropologie (analog einer negativen
Theologie) finde ich es wiederum sehr hilfreich, wenn wenig Aussagen
über die „Person als Form“ gemacht werden – außer, wie sich Personen in
Form bringen, bzw. sich in–Form–ieren, oder als Adresse andere
in–Form-ieren. Hierin sehe ich große Ähnlichkeiten mit Steve de Shazer,
der eher wie Luhmann über „die Person“ schweigt. Da Individuen sowieso
„immer unter einer bestimmten Unterscheidung“ (Luhmann) betrachtet
werden,
finde ich es respektvoller, die Unterscheidungsperspektiven zu
beobachten, mit deren Hilfe Aussagen über Personen gemacht werden, als
Aussagen über Personeneigenschaften all zu ernst zu nehmen.
Gerade im Suchtbereich - wo an für sich nach besseren Lösungen gesucht
werden sollte – wird das Wort „Sucht“ häufig als ein projektiver
Rohrschachtest für eine Vielzahl von Interpretationen und Annahmen
gebraucht, die hinter einem „Sucht-System“ liegen sollen.
Obwohl diese Idee schon längst durch systemische Konzepte, wie z. B.
dem der Äquifinalität (de Shazer) oder dem der Non-Funktionalität von
Symptomen (Schiepek) korrigiert worden sind, suchen nach wie vor viele
Sucht-Therapeuten nach einem „dysfunktionalen Familien-Sucht-System“,
welches sie in der Regel auch mit Hilfe dieser Optik entdecken. Gerade
deswegen finde ich die kraftvolle, differentielle Einfachheit von Niklas Luhmann so
erfrischend nüchtern - statt in den seichten Tiefen einer
trivialisierenden Kompliziertheit zu fischen.
Ernüchternd finde ich auch den Blick Luhmanns auf manche selbstsimplifizierenden konstruktivistischen Modellbildungen.
Zur Beschreibung von Therapieverläufen finde ich eine
konstruktivistische Reflexionstheorie außerordentlich hilfreich. Wenn
daraus jedoch eine implizierte Norm wird, bei der jegliche
Konstruktneutralität oder Irreverenz gegenüber dem Modell fehlt, finde
ich diesen Gebrauch eher limitierend. Dann führt ein normativer
Gebrauch konstruktivistischer Modelle dazu, dass diese Modelle nicht
mehr bereichsspezifisch (z. B. im Bereich von Therapie) gebraucht
werden, sondern der Gebrauch normativ auf zu viele Lebensbereiche
ausgedehnt wird.
Aus meiner Sicht führt dies dazu, dass nicht mehr zwischen Realität und
Bedeutungsgebung (Konstruktion) unterschieden werden kann. Eine
Vergewaltigung, ein Mord, ein Todesfall oder eine Geburt ist das eine,
und die Bedeutungsgebung dieser Realitäten das andere. Wird Realität
nur noch in Anführungszeichen, bzw. als Verhandlungssache gehandelt,
werden solche Tat-Sachen abgewertet und deren Bedeutung nicht real
erfasst.
Reale Krisen (z. B. Unfälle, Hochwasser, etc.) werden dann allzu oft
nur noch als Bedeutungsgebung erfasst und nicht mehr als
Realitätserfahrung. Damit wird der Mechanismus von Assimilation und
Akkomodation (i. S. von Piaget) außer Kraft gesetzt. Fakten werden
damit zu Geschichten und Geschichten nicht mehr durch Fakten
überprüfbar. Hat jemand z. B. heimlich Alkohol getrunken und ist die
positive Anzeige auf dem Alcometer dann eine Aussage über den Blick
darauf oder über die Realität? Wird dann noch zwischen Beobachtung und
Beobachtetes unterschieden?
Oder, wie kann der Behauptung, es gäbe keine KZ, widersprochen werden,
wenn Bedeutungsgebung und Realität nicht unterschieden werden? Oder wie
kann die Bedeutung eines Traumas oder sexuellen Missbrauchs tatsächlich
erfasst werden, wenn jedem „seine“ Wirklichkeitskonstruktion
zugestanden wird und nicht mehr von Tatsachen unterschieden wird? Ich
glaube, dass dies z.B. auch einer der Gründe ist, weshalb seriöse
Traumatherapeuten auf den möglichen Missbrauch von Traumadiagnosen
hinweisen.
Natürlich ist es oft nicht möglich, sauber eine Unterscheidung zwischen
Realität und Bedeutungsgebung zu unterscheiden. Dies ist im Bereich von
Therapie häufig der Fall. Nur weil dies so ist, bedeutet dies aus
meiner Sicht noch längst nicht, die Unterscheidung von Realität und
Konstruktion aufzugeben.
Häufig sind Wirklichkeiten eine komplementäre Mischung von
bedeutungsabhängigen und bedeutungsunabhängigen Realitäten. Es gibt
keine beobachtungsunabhängige Realität, aber auch keine
realitätsunabhängige Beobachtung (Ich weiß nicht genau, ob ich diesen
Satz in einem Interview mit Niklas Luhmann und Maturana wirklich gelesen habe, oder
mir dies tatsächlich selber eingefallen ist), dafür aber „harte“ und
„weiche“ Wirklichkeiten (Stierlin).
In diesem Sinne plädiere ich dafür, die 2-Seiten-Unterscheidung von
Realität und Konstruktion im Sinne einer Einheit der Differenz zu
unterscheiden und komplementär zu verknüpfen. So könnte ein
konstruktiver Realismus (Piaget) oder ein pragmatischer Realismus
(Putnam) oder ein realistischer Konstruktivismus entstehen. In jedem
Falle würde die Form der Unterscheidung „Beobachtung / Realität“ die
Würze der Wirklichkeit ergeben.
Falls das Realitätsprinzip auf konstruktivistische Weise zu sehr
abgewertet wird, entsteht als Gegenbewegung ein fundamentalistischer
Pseudo-Realismus á la Hellinger. Vielleicht hilft’s, wenn aus
systemischer Sicht die Realismus-/Konstruktivismus-Debatte á la
Davidson – Nagel – Putnam – Rorty aufgegriffen und weitergeführt würde.
Dann könnte z. B. die Form einer 2-Seiten-Unterscheidung eingeführt
werden, ohne dass man sich dabei nur auf eine Seite der Unterscheidung
bezieht (interessanterweise gibt es z. Zt. eine recht spielfreudige
Debatte mit der Überschrift „Moralischer Realismus“).
Genauso wenig wie es hilft „Realismus“ gegen „Konstruktivismus“ und
umgekehrt auszuspielen, genauso wenig ist es sinnvoll den „frühen
(Realisten)“ gegen den „späten (Konstruktivisten)“ Wittgenstein
auszuspielen – denn beides war eine Person.
Schlussendlich ist das Schöne für mich an Luhmanns Reflexionstheorien, dass
Systeme „nichts Besseres zu tun haben, als zu funktionieren, die
möglichen funktionalen Varianten mitgerechnet, und dass die Beweislast
für die Theorie, sie sollten und könnten anders funktionieren, als sie
es tun, beim Ankläger liegt“ (Sloterdijk). Oder wie Luhmann sagen
würde, „Man darf sich nicht unnötigem Widerstand aussetzen“.
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