In welchem Zusammenhang sind Sie erstmals dem Namen, der Person oder dem Werk Niklas Luhmanns begegnet? Und welchen Unterschied hat diese Begegnung für Sie persönlich gemacht?
PF: Dem Namen bin ich begegnet zu Beginn meines Studiums. Ich hatte in
Dortmund Veranstaltungen bei Gabor Kiss und Jürgen Markowitz belegt. Da
kam man um Niklas Luhmann nicht herum. Natürlich war das auch der
Zeitraum erster Lektüren, und ich erinnere mich gut des Ärgers, den ich
empfand. Ich war, so weit man das sagen kann, im Vollsinn alteuropäisch
sozialisiert, und ich spürte nachgerade körperlich die Gefahr, die von
dieser Theorie auszugehen schien. Ich beschloß dann, sofort nach
Bielefeld zu gehen und die Sache vor Ort zu prüfen. Zunächst war ich
ganz normaler Student in seinen Seminaren und Vorlesungen. Ich konnte
ihm gleichsam bei seiner Arbeit zuschauen. Ich war dann schnell
fasziniert durch dieses scheinbar trockene, aber tatsächlich hoch
präzise und sozusagen in den Gelenken gelockerte Denken, durch diese
Weise eines ironischen Realismus, der ja auch Spaß gemacht hat.
Welches seiner Werke hat eine besondere Bedeutung für Sie und warum?
PF: Das ist wirklich schwer zu sagen. Persönlich war mir „Die Funktion der Religion“ immer sehr nah, aber rein praktisch gesehen, ist es doch „Soziale Systeme, Grundriß einer allgemeinen Theorie“,
das ich immer wieder zu Rate ziehe. Ich sehe das, wenn man so will, am
Zerfledderungsgrad dieses Buches. Im übrigen ist es ja auch dieses
Buch, das im genauen Sinn die Theorie präsentiert, wenn es auch –
natürlich – danach weitere Entwicklungen gegeben hat, die in ihm selbst
allenfalls allusiv auftauchen.
Gab es persönliche Begegnungen mit Luhmann und, wenn ja: welche sind Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
PF: Ja, sicher. Ich war ja seine studentische Hilfskraft, und wir arbeiteten gemeinsam an dem Buch „Reden und Schweigen“.
Ich habe also viel mit ihm zu tun gehabt. Da ist mir eine Menge im
Gedächtnis geblieben, aber ein Abend ist mir besonders erinnerlich. Es
hatte eine große Veranstaltung im Auditorium Maximum gegeben. Fragen
der Zukunft, der Gentechnologie etc. wurden verhandelt. Dann kam es zu
heftigen Störungen. Von den Galerien wurde Mehl auf das Publikum und
die Vortragenden heruntergestäubt, Tomaten und Eier flogen, kurz: ein
wahres Chaos brach los. Später sah ich dann, wie menschlich betroffen
Luhmann durch diese Attacke war. Wir haben sehr lange auf dem Flur vor
seinem Büro gestanden und über diese Dinge geredet, und mein deutlicher
Eindruck war wirklich: tiefe Betroffenheit. Er kam, schien es mir,
einfach nicht darüber hinweg, daß dies so möglich war. Ich hatte fast
das Gefühl einer sich deutlich mitteilenden Schutzbedürftigkeit.
Besonders stark habe ich das erlebt in dem letzten Telephongespräch,
das ich mit ihm vor seinem Tode hatte. In diesem Gespräch hat dann
Theorie keine Rolle mehr gespielt und gerade das hat mich zutiefst
erschreckt. Nach diesem Gespräch wußte ich, daß wir ihn nicht mehr
lange unter uns haben würden.
Inwiefern können Mitglieder der
beratenden Professionen (Psychotherapie, Beratung, Supervision etc.)
von der Lektüre der Werke Luhmanns aus Ihrer Sicht profitieren - und
wie würden Sie die Antwort begründen?
PF: Ach, ich weiß nicht so genau. Der Gedanke des Profitierens ist mir
ziemlich fremd. Das klingt nach Anwendbarkeit und Nützlichkeit, nach
diesem staubhaufengrauen Zeitgeist der Applizierbarkeit. Wie Luhmann
würde ich lieber sagen, daß die Residenzen, die Sie zitieren, einfach
nur irritiert werden können, und das ist ja schon einmal nicht
schlecht. Jedenfalls werde ich von niemandem öfter eingeladen als von
der Zunft derer, die sich als Berater beschreiben, wobei ich – by the
way – Psychotherapie und Supervision nicht unbedingt dieser Zunft
zurechnen möchte. Ich weiß, daß diese Leute das selbst tun, aber ich
finde, daß damit eine Art sozialer Harakiri eingeleitet wird, so daß
man am Ende keine Spezifik mehr hat und Bratpfannenberater von
Seelenkundigen nicht mehr unterscheiden kann. Ich würde also raten:
respice finem, achte auf das Ende. Alles in allem denke ich, daß die
Auseinandersetzung mit strukturreichen Theorien für gescheite Leute
ohnehin unvermeidbar ist, da solche Theorien ja auch die Welt, die man
beobachten kann, umstrukturieren. Das meine ich ganz wörtlich. Mit den
Unterscheidungen, die diese Theorie liefert, sind Schnitte in die Welt
gelegt, die nur die Wahl lassen, sie zu registrieren oder in ein asylum
ignorantiae zu gehen. Das soll nicht heißen, daß diese Unterscheidungen
dazu verpflichten, an sie zu glauben, aber man sollte sie – bei einigen
Anspruch an kognitive Komplexität – so kennen, wie man seinen Kant,
Hegel, Wittgenstein, Husserl, Heidegger etc. kennt: als nichtignorable
Weltbeschreibungsmodelle.
Ist das nicht übertrieben?
PF: Ja, natürlich, es ist eine rhetorische Überbietungsfigur, die ich
mir leisten kann, weil ich für meine theoretischen Basteleien auf
alimentierte Weise freigestellt bin. Aber im Kern will ich nur sagen,
daß keine Praxis, die sich als Profession beschreibt, heute ausblenden
kann, daß es diese Systemtheorie gibt – auch nach Luhmann noch mit
prächtigen Weiterentwicklungen, die sich in der Zahl der Publikationen
und Bezugnahmen ausdrücken. Alles andere würde zu Erstarrung und zur
Unterkomplexität des Weltzugriffs führen. Das ist ja nicht nötig, und
es wäre ziemlich langweilig. Und wer würde das wollen?
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