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Theodor Bardmann: Leben wie Theorie
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Vorbemerkung: In
scheinbar sehr persönlichen und privaten Geschichten sollen Konturen
eines äußerst anspruchsvollen Theorieangebots erkennbar werden. Die
hier zusammengestellten Geschichten und Zitate stammen aus:
Bardmann, Theodor M., Baecker, Dirk (Hrsg.) (1999): "Gibt es eigentlich den Berliner Zoo noch?" Erinnerungen an Niklas Luhmann. Konstanz;
Horster, Detlef (1997): Niklas Luhmann. München;
Stichweh, Rudolf (Hrsg.) (1999): Niklas Luhmann. Wirkungen eines Theoretikers. Bielefeld
World without end. Oder: Das Ende ist ein Anfang!
Sowohl der Anfang wie das Ende sind Konstruktionsleistungen
eines Beobachters, der damit eine Zäsur in eine ansonsten differenzlose
Zeit legt: "Wenn man eines Tages aufwacht und merkt, dass einem nichts
mehr weh tut, dann weiß man, dass man tot ist" (Niklas Luhmann). Am 6.
November 1998 ist Niklas Luhmann ohne Schmerzen aufgewacht. Was immer
ihn in seinem Leben ohne Schmerzen erwartete, wir jedoch haben mit ihm
einen der "schärfsten Beobachter" (FR) unserer Zeit für immer verloren
und sind ab sofort uns selbst überlassen. Ab sofort werden die Texte,
die er uns hinterließ, für sich selbst sprechen müssen.
Kontingenz - Alles könnte anders sein!
Luhmann wurde eines Tages von einem kontingenzverliebten Freund
gefragt: "Seit wann, Herr Luhmann, denken Sie Kontingenz?", und Luhmann
soll geantwortet haben: "Herr X, unsere Gymnasialklasse ist 1945 noch
zur Wehrmacht einberufen worden. Ich stand mit meinem Banknachbarn an
der Brücke Y, zwei Panzerfäuste in vier Händen. Dann machte es Zisch,
ich drehte mich um - da war kein Freund und keine Leiche, da war
nichts. Seitdem, Herr X, denke ich Kontingenz." Fürwahr: Alles könnte
anders sein!
Symbiotische Mechanismen: Nach dem Recht kommt die Gewalt!
Niklas Luhmann wurde am 8.12.1927 in Lüneburg geboren, der Vater
ist Brauereibesitzer, die Mutter stammt aus einer Schweizer
Hotelierfamilie. Im Herbst 1932 brannte ein Speicher der Familie
Luhmann ab, verdächtigt wurde ein Nazi, den Brand gelegt zu haben. Die
juristische Untersuchung gegen ihn wurde allerdings 1933 sofort
eingestellt. "Auf dem Hintergrund dieser Ereignisse hatte man das
Gefühl, man müsse sich ruhig halten." Luhmann selbst hatte auch
Schwierigkeiten: "Wir waren im Sommer immer in der Schweiz. Ich kam von
da mit allen möglichen Ansichten zurück, die in Deutschland ganz
unmöglich waren. Z.B. war ich gegen Franco und war erstaunt, dass alle
in Deutschland für Franco waren. Die Lehrer waren entsetzt und
bestellten meinen Vater zu sich. Ab 1938 durfte ich nicht mehr in die
Schweiz, was ich als Kind gar nicht begriffen habe." Und dann, 1944,
hatte die Gewalt, der symbiotische Mechanismus des Rechts, das Recht
verdrängt. Luhmann berichtet: "Ein britisches Flugzeug stürzte über
Lüneburg ab, und die beiden Piloten konnten sich retten. Sie lagen aber
später, wie wir als Luftwaffenhelfer feststellen konnten, von hinten
erschossen in der Flugzeughalle."
Paradise lost: Wir können der Welt nur unterschiedliche Problemlagen abtauschen!
Luhmann geriet kurz in amerikanische Gefangenschaft. Aus dieser Zeit
stammt folgende Erfahrung: "Vor 1945 hatte man doch gehofft, dass nach
dem Wegfall des Zwangsapparates alles von selbst in Ordnung sein würde.
Das erste jedoch, was ich in der amerikanischen Gefangenschaft erlebte,
war, dass man mir meine Uhr vom Arm nahm und dass ich geprügelt wurde.
Es war also überhaupt nicht so, wie ich vorher gedacht hatte. Und man
sah dann bald auch, dass der Vergleich von politischen Regimen nicht
auf der Achse 'gut/böse' verlaufen konnte, sondern dass man die Figuren
in ihrer begrenzten Wirklichkeit beurteilen muss." Luhmann hielt sich
fortan utopisch abstinent. Zu tief saß ihm der Verdacht, dass jede
Utopie ihre dunkle Seite mit sich herumträgt und im ungeeignetsten
Moment aus sich entlässt: Paradise lost.
Order from noise: Aus dem Chaos heraus eine Ordnung schaffen
Nach dem Abitur (1946) am altsprachlichen Gymnasium Johanneum in
Lüneburg studierte Luhmann Rechtswissenschaften in Freiburg: Nach den
Gründen seiner Wahl gefragt, antwortete er, er habe das Recht als eine
Möglichkeit gesehen, "Ordnung zu schaffen in dem Chaos, in dem man
lebte". 'Chaos' steht dabei für die vielen Verstöße gegen an sich
geltendes Recht, wovon er in der Gefangenschaft etliche erlebte, nicht
nur am eigenen Leib in der Form von Prügel aus heiterem Himmel, sondern
auch in der Form, dass Mitgefangene entgegen der Genfer Konvention
verhungerten oder vor Erschöpfung starben. Unmittelbar nach der
Kriegsgefangenschaft hatte Luhmann seine Mutter in der Schweiz besucht
und auf dem Rückweg ein obskures Schweizer Ausländergesetz übertreten,
wofür er sieben Tage lang ins Gefängnis gesteckt wurde. In der
Nachbarzelle hörte er einen SS-Mann nach seinem Anwalt schreien. Erst
als Luhmann frei kam, klärte ihn sein Basler Onkel auf: Die Schweiz
hielt jenen SS-Mann ohne Verfahren (!) und ohne Verteidigung (!) hinter
Riegeln, bloß weil ein aktenkundiger Auslieferungsantrag der
Volksrepublik Polen ihm den sicheren Galgen beschert hätte. Diese
Botschaft kam an. "Seit damals", sagte Luhmann, "wollte ich
Jurisprudenz studieren". Luhmann studiert 'Römisches Recht', das Recht,
das - wenn man so will - zum ersten Mal Europa einte. An der
Formulierung dieses Rechts und seiner Handhabung ließ sich für Luhmann
das "Geschick der Konstruktion" bestens studieren.
Reduktion von Komplexität hier…
Luhmann arbeitete nach dem Referendariat und dem 2. Staatsexamen (1953)
mehrere Jahre in der Verwaltung. Nach einem Jahr am
Oberverwaltungsgericht in Lüneburg ging er nach Hannover und bearbeitet
dort Nazi-Wiedergutmachungsfälle, um daraufhin sechs Jahre lang,
1956-1962, als Landtagsreferent im niedersächsischen Kultusministerium
zu arbeiten. So richtig ernst hat Luhmann die Aussicht auf eine
Verwaltungskarriere wohl nicht genommen. Einem Kollegen aus dem
Innenministerium, der ihm prophezeite, er würde nie ein 'richtiger
Beamter' werden, wenn er nicht einmal 'in einem Landkreis tätig gewesen
wäre', - was nichts anderes hieß, als: wenn er sich nicht mit den
Leuten auf Feuerwehr- und Schützenfesten betrinke - antwortete Luhmann:
"Ich lese Hölderlin!", und das hieß, er zog es vor, die Komplexität
seiner Welt auf seine Art zu reduzieren.
…Aufbau von Komplexität dort
Der Zufall - ein Harvard-Stipendium - eröffnete 1960 die Möglichkeit,
der öffentlichen Verwaltung zu entfliehen und noch einmal zu studieren.
So traf Luhmann auf Talcott Parsons und dessen Strukturfunktionalismus.
Fasziniert von dieser "großen Theorie" nahm er sein eigenes Lebenswerk
in Angriff: die Ausformulierung einer Theorie sozialer Systeme,
speziell: einer Theorie der Gesellschaft. 1984 erscheint Soziale
Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie (stw 666 !), 1997, ein Jahr
vor seinem Tod, Die Gesellschaft der Gesellschaft (zwei Bänden, schwarz
gebunden !). Im Vorwort ist zu lesen: "Bei meiner Aufnahme in die 1969
gegründete Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld fand ich
mich konfrontiert mit der Aufforderung, Forschungsprojekte zu benennen,
an denen ich arbeite. Mein Projekt lautete damals und seitdem: Theorie
der Gesellschaft; Laufzeit: 30 Jahre; Kosten: keine." Die Komplexität,
die seine Theorie erreichte, war nur auf Kosten strenger Reduktionen an
anderen Stellen zu erreichen.
Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation: Auch für Systemtheoretiker gibt es mehr, als nur die Theorie
1960 heiratete Niklas Luhmann Ursula von Walter. Nach 17 jähriger Ehe
starb sie, und Luhmann widmete ihr das noch im Sterbejahr erschienene
Buch Funktion der Religion (1977) mit folgenden Worten: "Meiner Frau,
der Religion mehr zu sagen vermochte, als Theorie je zu sagen vermag."
Aus dem Leben trug Luhmann die Erfahrung, dass gelingende Kommunikation
höchst unwahrscheinlich ist, in die Theorie. Und aus der Theorie drängt
sie mit jedem Abschied von einem geliebten Menschen ins Leben zurück.
Schaffe Möglichkeiten, durch inkongruente Perspektiven!
Luhmann war ein Querdenker - von Anfang an. Er wollte nicht dem
'mainstream' folgen, um dessen Ideen zu kopieren, er wollte auf
Seitenpfaden ein ureigenes Problem bearbeiten. 1966 erfolgen Promotion
und Habilitation in einem Abstand von nur zwei Monaten. Sein
Habilitationsvortrag trägt bereits den Titel, der für Luhmanns
Systemtheorie Programm werden wird: "Soziologische Aufklärung".
Soziologische Aufklärung meint die Abklärung der überzogenen Hoffnungen
der 'alteuropäischen, naiven Aufklärung', vor allem was die gleiche
Beteiligung aller Menschen an einer gemeinsamen Vernunft und den
erfolgssicheren Optimismus in bezug auf die Herstellbarkeit richtiger
Zustände betrifft. Bereits zu Anfang seiner wissenschaftlichen
Karriere, weiß Luhmann, dass es nicht mehr darum gehen kann, über die
Seinszustände der Welt aufzuklären, sondern darum, den
Konstitutionsbedingungen je unterschiedlicher 'Weltanschauungen'
nachzugehen. Nicht: "Was ist die richtige, was ist die wahre, was ist
die zutreffende Anschauung?", sondern: "Welche unterschiedlichen
Anschauungen sind möglich? Wie könnte die Welt anders als üblich
beschrieben werden?" Das sind Fragen, um deren Beantwortung auch
SozialarbeiterInnen immer wieder ringen, wenn sie es mit unbrauchbaren,
leiderzeugenden Wirklichkeitskonstruktionen, die kein Vor und kein
Zurück mehr erlauben, zu tun bekommen. Luhmann hat diese Fragen in
seiner Theorie anders als andere zu beantworten gewusst. Getreu dem
'Ethischen Imperativ' des Heinz von Foerster: "Schaffe Möglichkeiten!"
sorgte Luhmann mit seinem Äquivalenzfunktionalismus für ein
"Überschusspotential für Strukturvariationen, das den beobachteten
Systemen Anregungen für Auswahl geben kann". Sein Ziel war es, "das
Handeln mit Substitutionsmöglichkeiten auszustatten und ihm dadurch
eine Sicherheit zu bieten, die nicht auf der Verlässlichkeit
festgestellten Seins, sondern auf der Verfügbarkeit anderer
Möglichkeiten beruht", so Luhmann in seinem Habilitationsvortrag von
1970.
Der Mensch als Teil sozialer Systeme? Nein, danke!
Niklas Luhmann wurde Anfang der 70er Jahre zum 'Sozialtechnologen'
stigmatisiert, die Systemtheorie als 'erzkonservativ', als 'rechts'
verschrien. Der unsägliche Buchtitel Theorie der Gesellschaft oder
Sozialtechnologie: Was leistet die Systemforschung?, unter dem Luhmanns
Debatten mit Jürgen Habermas 1971 publiziert wurden, schlug genau in
diese Kerbe. Gekränkt und verletzt haben Luhmann viele dieser
stillosen, sich politisch, sich soziologisch gebenden Attacken, auf die
nicht öffentlich zu reagieren war. Als man es ihm als Unmenschlichkeit
ankreiden wollte, die Individuen in seiner Theorie dem sozialen System
außen vor zu halten, war er schockiert. "Die Menschen als dessen Teil
zu fordern, ob sie wollen oder nicht", diese Vorstellung entsetzte ihn
- wohl eingedenk seiner eigenen Jugend. Von seiner Kindheit in Lüneburg
erzählte Niklas Luhmann einmal: Wenn er in jenen Jahren der
Hitlerkultur sich einmal am Ballspielen beteiligen durfte, so wurde er
von den Jungen immer vor eine Schaufensterscheibe positioniert". Für
Luhmann stand es fest, dass es der Würde und dem Wohl des Menschen
besser täte, ihn nicht per se als Teil der Gesellschaft zu fassen und
damit vorweg und unbefragt sozial zu vereinnahmen.
Zeit: Momente statt Monumente!
In seiner Theoriearbeit führt Luhmann stets die Fragen mit: Wie werden
im Selbstlauf des Geschehens Probleme generiert, wie Lösungen zu
Problemen gefunden? Und vor allem: Wie verbrauchen sich die gefundenen
Probleme und Lösungen im Laufe der Zeit wieder, um der Suche nach neuen
Lösungen und neuen Problemen Platz zu machen? Kurzum: Luhmann geht es
um die Ereignishaftigkeit des sozialen Geschehens. Er sucht nicht nach
den großen unverbrüchlichen Monumenten, die alles überdauern, sondern
nach den Momenten, an denen sich die Geschichte entscheidet und ihr
Lauf geändert wird (oder zumindest: geändert werden könnte).
So käme es ihm nicht in den Sinn, nach dem 'Wesen des Menschen' zu
fragen. Was ihn aber interessierte, das waren die Unterscheidung, mit
deren Hilfe die Menschen den Mensch in unterschiedlichen Epochen
gezeichnet haben: die Arbeit am Menschen - und das gilt in ganz
besonderem Maße für die Soziale Arbeit - ist eine Arbeit an den
benutzten Unterscheidungen!
What is behind that curtain? - Nothing!
Am 9.2.1993 findet an der Universität Bielefeld die Emeritierungsfeier
zu Ehren Niklas Luhmanns statt. Luhmann verabschiedete sich mit der
Vorlesung: 'Was ist der Fall? und Was steckt dahinter?' Zum Schluss
seines Vortrags greift er die im Titel formulierte Frage mit Bezug auf
seine eigene Theorie wieder auf und fragt: Was steckt hinter all dem,
was für die Systemtheorie der Fall ist? Und seine Antwort lautet: "Gar
nichts!" - außer Systemtheorie.
Zum Schluss die alles entscheidende Frage: Wer war Niklas Luhmann?
"Die Frage des "Wer bin ich?" führt zwangsläufig ins Dunkel, aus dem
man nur auf unehrliche Weise (...) wieder herausfindet" (Luhmann). Aber
wenn schon 'unehrlich', dann wenigstens schön! Etwa so wie es sein
Freund De Giorgio versucht hat: "Er war seine Theorie. Nicht weil die
Theorie sein Leben gewesen wäre, sondern weil sein Denken und Leben wie
seine Theorie waren. Überraschend, selbstironisch, geduldig, einsam,
unverständlich einfach, harmlos und zerstörerisch, paradox und
selbstverständlich. |
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