Lothar Eder: Im Pisspott Gottes oder: Verstopfung, Kreuzschmerzen und eine viel zu große Schraube
Meine Eltern (Gott hab sie selig) machten mich früher immer ärgerlich mit ihren Berichten über Reisen (sie sind niemals weit gereist, mal an den Wolfgangsee oder in die Lüneburger Heide, aber immerhin). Denn im Mittelpunkt ihrer Berichte standen immer zwei Fragen bzw. Antworten – zum einen, wie das Essen war, zum anderen, wie man da und dort geschlafen habe. Meine damaligen intellektuellen Prinzipien ließen solche Fragen nicht gelten, sie erschienen mir schlichtweg lächerlich. Denn schließlich gab es doch über fremde Orte und die Aufenthalte dort wichtigere Dinge zu berichten als die Qualität des Essens, der Matratzen und ob das Hotelzimmer an einer befahrenen Straße gelegen hatte oder in einer ruhigen Gegend. So dachte ich damals. Das Nachdenken über die Frage nach meinen beeindruckendsten Kongresserlebnissen aber belehrt mich eines Besseren. Mehr noch: das Ergebnis dieses Nachdenkens macht mir klar, wie sehr ich doch Kind meiner Eltern bin. Denn es sind vor allem die körperlich – im wahrsten Sinne – eindrücklichen Erinnerungen, die sich in meinem Bewusstsein am meisten in den Vordergrund schieben. Ein weiteres kommt hinzu: das Atmosphärische, Stimmungen und scheinbare Nebensächlichkeiten spielen für mich meist die Hauptrolle. Daran mag es liegen, daß ich mich an keinen Kongressbeitrag erinnere, der mich völlig aus den Schuhen gehauen hätte (es kann aber auch an meinem bloßen Unverstand liegen). Andererseits erinnere ich mich genau an das Gefühl beim Lesen meines ersten systemischen Textes im April 1989. Es war "Hypothetisieren, Zirkularität, Neutralität. Drei Richtlinien für den Leiter der Sitzung" von Selvini Palazzoli, Boscolo, Cecchin und Prata. Der Text, v.a. die Verweise auf Bateson hatten eine Wirkung auf mich, als hätte man mir zwei Gläser Sekt direkt intracerebral induziert. Es fühlte sich an wie kleine Prickelbläschen im Hirn, leicht, etwas betrunken, ich verstand nur annähernd was ich da las, jedoch war dieser Unverstand mit einem Glücksgefühl und der Ahnung, gerade etwas wirklich Umwerfendes zu lesen, verbunden. Kleine Kippfiguren im Neocortex, die bei genauem Hinsehen immer wieder in die gewohnte Form zurücksprangen, dabei aber herausfordernd herumwackelten. Und ich erinnere noch genau den Garten hinter dem Haus der WG-Wohnung, in den ich mich zu Lesen gesetzt hatte, es war ein heißer Apriltag und um mich herum dieser Garten, dessen ungepflegter Zustand (in welchem WG-Haus gab es gepflegte Gärten?) unbeeindruckt-lässig vor sich hin sprießte. Im Frühsommer 1993 (ich war dann schon Ausbildungsabsolvent und kam mir sehr systemisch vor) veranstaltete die damalige IGST einen kleinen Kongress in Orta am Ortasee, dem kleinen Bruder des Lago Maggiore. Statt des ersehnten frühsommerlichen Wetters jedoch (daheim im Rhein Neckar Dreieck war es recht warm bei der Abreise) schiffte es in Orta aus Kübeln. Luigi Boscolo klärte in seinem Vortrag darüber auf, dass die Gegend in Italien der "Pisspott Gottes" genannt würde. Diese mehr oder weniger gelungene Metapher machte das Wetter nicht besser, aber irgendwie kann man die Umstände besser ertragen, wenn man ein gutes Sprachbild dafür gefunden hat. In einem ansonsten leeren Straßencafé auf der verwaisten abendlichen Piazza, unter großen Sonnenschirmen, die zu Regenschirmen wurden, saß ich mit Arnold und Astrid Retzer und Bernd Schumacher (kein Italiener kommt bei einem solchen Sauwetter auf die bescheuerte Idee, draußen herumzusitzen), alle in Pullis und Jacken gewickelt und wir tranken tapfer italienisches Bier (das bei jedem Wetter eine Zumutung ist). Peter Gester trug auffällige Hemden. Nosrat Peseschkian hielt einen Vortrag über leicht verständliche und niederkomplexe Zusammenhänge, der (vielleicht deshalb?) schlecht besucht war und Fritz Simon lief hektisch durchs Gebäude und animierte Kollegen, sich in Peseschkians Vortrag zu setzen, sonst wäre es ja wirklich zu peinlich. Und eben jener Fritz Simon war es, der im anderen Café auf der Piazza, es war Mittag und aus unerfindlichen Gründen schien kurzzeitig die Sonne, den Satz in die Runde warf, wir (Systemiker) machten aus Klienten Kollegen, während Hellinger aus Kollegen Klienten mache. Hellinger. Es war meine erste Begegnung mit Bert Hellinger, der in Orta einen Vortrag und einen Workshop hielt. Oder besser: mit dem Phänomen Hellinger. Denn von Anfang an herrschte unter den Teilnehmern der Tagung eine merkwürdige Atmosphäre, die gleich am ersten Abend zu spüren war. Der Speisesaal des Hotels, in dem die meisten logierten, schien seltsam zweigeteilt. Zwei Populationen, so hatte es den Anschein, bevölkerten ihn, zwei Populationen, getrennt durch eine unsichtbare Absperrung. Hier die Konstruktivisten, dort die Hellinger-Anhänger. Da weste etwas durch den Raum, etwas Sphärisches, Transmaterielles war über den Tischen der Hellingerianer, sie waren nur wegen Bert gekommen. Ja, der Bert, und die Augen glänzten. Meine Augen glänzten nicht und das lag nicht an Bert. Es lag am italienischen Essen und an den italienischen Matratzen, vielmehr an einer italienischen Matratze, die den Namen nicht verdiente, und sie lag in meinem Zimmer. Ihr durchhängender Charakter verschaffte mir schon nach der ersten Nacht Pein, ich konnte vor Schmerzen nicht mehr richtig sitzen, stehen, denken. Dazu das italienische Essen. Ich liebe italienisches Essen, aber mein Körper empfindet es als Zumutung. Schon beim Anblick dieses geschmacksneutralen und konsequent ballaststofffreien Weißbrotes verweigert mein Darm jedwede peristaltische Operation. Und erst recht, wenn es ihm leibhaftig zugeführt wird. Es steht bei jedem Essen rum, sagt iss mich, und man begibt sich Bissen um Bissen auf die Suche nach dem verlorenen Geschmack. Jedenfalls bekam ich eine Verstopfung der jenseitigen Art (jesusmäßig, wie der Schwabe sagen würde), der legendäre Constipation Blues von Screamin’ Jay Hawkins beschreibt es annähernd. Die Matratze war so schlecht und ich war so verstopft, dass ich nicht mehr weiß, ob das Zimmer ruhig war oder nicht. Was ich auch nicht mehr genau weiß, dies aber in einer für mich beeindruckenden Weise, ist, worüber genau Stephen Lankton in seinem Vortrag in Orta über Hypnotherapie gesprochen hat. Was ich aber noch ziemlich genau zu erinnern glaube, ist, dass er während seines gesamten Vortrages im Gemeindehaus von Orta (während es draußen wahrscheinlich Gottes Pisse regnete) mit einer riesigen metallenen Schraube und der dazugehörigen Mutter herumhantierte. Lankton sprach und sprach, während ich und alle anderen zuhörten, dabei aber alle (zumindest ich) völlig fasziniert auf dieses völlig unpassende Ding in seinen Händen starrten, überzeugt davon, dass es sich dabei bestimmt um eine Intervention der tieferen Sorte handelt, deren Sinn sich im Laufe des Vortrages irgendwann herausstellen würde, während man versucht, auf die Worte zu hören und dabei in eine tiefe und tiefere Trance undsoweiter… Die Ericksonianer unter uns wissen, wovon ich rede (bzw. schreibe). Über den Inhalt des Vortrages kann ich nichts mehr sagen, ich habe ihn vergessen. Nur so viel: er war großartig. Ich habe mich total entspannt und sowohl meine Kreuzschmerzen als auch meine gottverdammte Verstopfung vergessen. Und das war wundervoll. Zumindest für die Zeit des Schraubenvortrags. Bernd Schumacher, der neben mir gesessen hat, in Orta, bei Stephen Lankton und seinem Schrauben- und Mutternvortrag (Gott, wenn das ein Analytiker liest!), erzählte mir Jahre später, er habe Lankton Jahre später (ich schwöre, es ist die Wahrheit!) getroffen und ihn gefragt, was es denn damals in Orta mit dieser verdammten Schraube und der Mutter auf sich gehabt habe. Lankton habe sich zunächst an keine Schraube (und keine Mutter, aufgepasst ihr Analytiker, da ist was für euch!) erinnern können. Dann aber sei ihm eingefallen, er habe damals, auf der Reise nach Orta, das Ding zufällig am Flughafen gefunden, mitgenommen und dann einfach ohne Nachdenken beim Vortrag dabei gehabt. Kein Sinn, gar nichts. Was er damit gemacht habe? Keine Ahnung, er habe sie wahrscheinlich liegen lassen. Also, ich kann nur sagen, an diesen Kongress in Orta denke ich wirklich gerne zurück!
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