Jürgen Hargens: „Reisen bildet …”, so heißt es
Alles
beginnt immer irgendwie mit dem ersten Mal. Kann auch nicht anders
sein. Im Jahre 1983 – damals als Herausgeber der Zeitschrift für
systemische Therapie – hielt ich die Ankündigung von Paul Dell in
Händen: er organisierte an seiner Einrichtung, dem Family Therapy
Institute in Virginia Beach, Maturana Lectures und Maturana Dialogues.
Damals – zu Beginn der 80er Jahre – hatte Paul Dell in einem
fulminanten Artikel für Family Process (1982) die Ideen von Maturana
dem familientherapeutischen Auditorium näher gebracht. Neue und beinahe
revolutionär zu nennende Ideen. Und jetzt dieses Ereignis. Gerne wollte
ich etwas davon in deutsch herausbringen, doch dazu kam es nicht.
Stattdessen schrieb mir Paul (damals waren Faxe noch ungewöhnlich und
E-Mail zumindest mir unbekannt), dass es nichts Schriftliches gäbe, ich
aber eingeladen sei, zu kommen und dann könnte ich ja sehen, was ich
mit dem Material machen würde. Welche Gelegenheit! Und ich nutzte sie. Eines
morgens stieg ich in Flensburg in den Zug, fuhr nach Hamburg, bestieg
dort den Flieger (mein zweiter Flug überhaupt und mein erster Flug ins
Ausland), musste in Düsseldorf umsteigen und saß dann von Düsseldorf
bis New York eingezwängt im Mittelsitz der Fünfer-Sitz-Reihe. Natürlich
mit guter Unterhaltung über die Einreise am Kennedy-Airport (Paul
Watzlawick hatte in seinem Reiseführer für Amerika darüber
geschrieben), die Wartezeiten und – das erzählte man(n) einem
Erstflieger wohl immer – über den Verlust des Reisegepäcks! Ich bin
gut angekommen – mit einer Stunde Verspätung, gelangte durch die
Einwanderungsbehörde, wo der Beamte in einem dicken Buch suchte, ob ich
vielleicht nicht einreisen dürfte, gab mein Gepäck (ja, es war da) zum
Weiterflug auf und machte mich auf den Weg ins Terminal zum Weiterflug.
Drei Stunden Aufenthalt. Der Weiterflugterminal war klein … und
menschenleer. Nach anderthalb Stunden kam ein Mensch und fragte, ob es
hier nach Virginia Beach weitergehe. „I hope so!“ war meine Antwort.
Eine halbe Stunde vor Abflug, die Dämmerung hatte eingesetzt, kamen
Angestellte der Fluggesellschaft und eine kleine Propellermaschine
brachte mich nach Virginia Beach. Es muss einer der letzten Flüge
des Tages gewesen sein, denn der kleine Flughafen leerte sich und
niemand war da, mich abzuholen. Ich schaute in meiner Tasche nach
Adresse und Telefonnummer von Paul – nur um mit Entsetzen
festzustellen, dass ich sie nicht mitgenommen hatte. Ich kannte Paul
nur vom Schreiben, hatte keine Idee, wo er wohnte und stand nun nachts
auf einem kleinen US-amerikanischen Flughafen. Ende gut – alles gut!
Nach etwa zehn Minuten tauchten zwei Menschen auf, eine Frau und ein
Mann. Paul und seine Kollegin, bei der ich wohnen würde. Diese Nacht schlief ich trotz Zeitverschiebung wunderbar! Am
nächsten Morgen begannen die Maturana Lectures. Ein kleines Publikum,
ich meine mich zu erinnern, dass es etwa 70 bis 80 Leute waren, die
zunächst Donuts und Kaffee verschlangen und alle irgendwie miteinander
ins Gespräch kamen. Das war mir neu und das musste ich lernen – einfach
auf die KollegInnen zuzugehen. Das war der Grund, weshalb alle ein
Namensschild trugen. Paul half mir – er stellte mich Rich Simon vor,
Herausgeber des Family Therapy Networker. Rich stellte mich dann vielen
anderen Leuten vor, die mein Ankommen in die US-Szene erleichterten.
Einige von ihnen besuchte ich später. Was mir als ungewöhnlich
auffiel, war die ständige Freundlichkeit, der ständige Small-Talk und
das Gewusel des Mittendrin-Seins. Neuland für mich. Die Maturana
Lectures beeindruckten mich sehr. Ich hatte einiges gelesen, über
Struktur-Determinismus, Autopoeisis – in einer hoch abstrakten Sprache.
Und hier hörte ich mehr dazu und das in englisch. Das mich am stärksten
Beeindruckende war Maturana selbst. Er legte sein Konzept überzeugend
dar, in derselben abstrakten Sprache und in derselben Art, wenn er auf
Fragen des Auditoriums einging. Für mich ein Beispiel von jemandem, der
von seiner Idee überzeugt ist und sie so lebt. Ich habe später mehr
solcher Menschen getroffen – und eben diese haben mich beeindruckt. Etwas
gab es, was ich besonders gelernt habe und was mir später hilfreich
war. Egal, wie informativ, anregend oder langweilig solche
Treffen/Kongresse/Symposien auch sein mochten, das Spannende war und
ist die Begegnung mit den TeilnehmerInnen und das Lernen von ihnen. Und
– natürlich – das Eintauchen in fremde Kulturen. Und die USA sind eine
mir fremde Kultur. Am Tag nach der Veranstaltung war ich bei Paul
zuhause, wo auch Humberto wohnte. Paul wollte mit uns an den Strand und
fragte „Are you ready?“, was ich bejahte. Humberto sah mich lächelnd an
und meinte: „You are not ready“, um mir zu erklären, dass ich, wie er
vermutete, meine Badehose nicht drunter hätte, denn es sei verboten,
sich am Strand umzuziehen. Für einen Norddeutschen eine ungewöhnliche
Vorschrift. Aber es gab noch mehr Verwirrendes, das ich hier gar
nicht alles aufzählen kann, weil meine Erinnerung die verschiedenen
USA-Besuche miteinander vermengt. Es hat alles dazu beigetragen,
„ander(e)s“ zu erleben und dies auch stehen zu lassen. Ich habe dabei
gelernt, geduldiger zu werden, mehr zu schauen, abzuwarten. Und ich
habe es mir angewöhnt, nicht immer nur nach vorne zu schauen, wo die
Vorträge, Referate und Demonstrationen ablaufen, sondern mich darauf
einzulassen, zu erleben, was mit mir passiert. Das waren und sind die
spannenden Entwicklungslinien. Ich habe – der Vorteil eines
Herausgebers – KollegInnen bei der Arbeit erleben können, vor und
hinter der Einwegscheibe, in ihrer Familie, in Kneipen, im Alltag. Das
hat mich einerseits bescheidener, andererseits zuversichtlicher
gemacht, vertrauend auf die eigenen Ressourcen. Das ist eine meiner
eindrucksvollsten Erfahrungen, die ich bei der Rückkehr meinem Kollegen
mitteilte: „Wenn die bekannten Kollegen Kaffee kochen, dann machen sie
zuerst Wasser heiß. Das können wir auch.“
Literatur:
Dell, Paul F. Beyond Homeostasis, Fam. Proc. 21: 21-41, 1982, dtsch.
Über Homöostase hinaus: Auf dem Weg zu einem Konzept der Kohärenz, in:
ders. Klinische Erkenntnis. Zu den Grundlagen systemischer Therapie.
Dortmund: modernes lernen, 19902
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