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systemagazin special: "Kongressgeschichten"
Tom Levold: Brutalstmögliche Selbstaufklärung

Im Herbst 1980, also vor 27 Jahren, fuhr ich zu meiner ersten familientherapeutische Tagung.
Gerade zweieinhalb Jahre zuvor hatte ich, mit einem Diplom der Sozialwissenschaften der Ruhr-Universität Bochum in der Tasche, meine erste Stelle angetreten, als Wohngruppenleiter im Haus Sommerberg in Rösrath bei Köln, einer therapeutisch-pädagogischen Einrichtung für dissoziale Jugendliche. Kaum dort angekommen, geriet ich in den Strudel der familientherapeutischen Szene, der sich zu diesem Zeitpunkt - und zu meinem Glück - immer schneller ausbreitete und eine unglaubliche Eigendynamik entwickelte. Alles war neu, alles aufregend. Die DAF hatte sich 1979 gegründet und ihre zweite Jahrestagung stand bevor, vom 29.9. Bis zum 3.10.1980. Gemeinsam mit meinen Kollegen Hans Christ und Manfred Elbers aus Köln fuhr ich hochgespannt nach Erlangen, Siemens-Stadt und Residenz von Karl Gerlicher, dem bald folgenden DAF-Vorsitzenden und Leiter der dortigen Beratungsstelle. Ich hatte keine Ahnung, was mich erwartete. Wir hatten im Sommer in Köln die APF gegründet und waren gespannt auf alle neuen Eindrücke. Hinzu kam für mich, dass ich gerade meine Psychoanalyse begonnen hatte und ohnehin das Gefühl hatte, mich gänzlich in der Schwebe zu befinden. Alles, was war, galt nicht mehr richtig - wohin es gehen sollte, wusste ich auch nicht wirklich, immerhin war ich erst 27 Jahre alt (also ziemlich genau halb so alt wie heute, wie ich gerade merke).
In Erlagen fand ich Unterschlupf in einer Wohngemeinschaft (das wurde damals noch von Veranstaltern von DAF-Tagungen organisiert!), hatte aber wenig Zeit, mich mit den Bewohnern zu beschäftigen (was wohl, außer dem geringeren Aufkommen an Wohngemeinschaften und dem höheren Durchschnittseinkommen von Tagungsbesuchern, mit dazu beigetragen hat, dass heutzutage WGs nicht mehr die erste Wahl bei Tagungsunterkünften sind). Stattdessen streifte ich durch ein Wunderland, von dem ich ein Jahr zuvor noch nicht einmal eine Ahnung gehabt hatte. Immerhin hatte ich schon eine Tagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie besucht, kam aber vor Ehrfurcht dort nicht wirklich dazu, mich zugehörig zu fühlen. Das war hier ganz anders. Eine sprunghaft explodierte Gemeinschaft suchte sich selbst. Und ich gehörte dazu. In Windeseile war die DAF auf über 500 Mítglieder angewachsen, von denen ein nicht kleiner Teil hier in Erlangen anwesend war, von einer Organisationsgruppe um Jochen Harnatt effektiv organisiert. Die Zusammensetzung war freilich - wie sich denken lässt - mehr als heterogen, gab es doch so gut wie keine Institute, Curricula, Weiterbildungsrichtlinien. Jeder konnte teilhaben. Und so gab es einen bunten Jahrmarkt all derer, die sich einfach als zugehörig definierten. Workshops, Vorträge, Selbstfindungsgruppen, Plena, nichts war vordefiniert, alles alternativ, offen, natürlich auch links.
Dass die Tagung unter dem Motto „Familiendynamik und Politik“ stand, weiß ich heute nur noch, weil ich alle Hefte der Verbandzeitschrift der DAF „Kontext“ seit jener Zeit gesammelt habe, für die als Mitherausgeber zu arbeiten ich heute das Vergnügen habe. Im Editorial von Heft 3 des „Kontext“ von Dezember 1980, in dem Tagungsteile dokumentiert wurde, hieß es bezeichnenderweise: „Verstehen wir uns mehr als Grüne außerhalb des Systems der etablierten Fachgesellschaften? Oder sind wir eine Gruppe linker Therapeuten auf den Spielwiesen des unpolitischen Psychobooms?“ Immerhin wurden die Grünen auch 1980 gegründet. Die Verbindung von Therapie und Politik lag viel näher als heute. Das wurde auch durch die Gießener Vormacht in der DAF sichergestellt. Annegret Overbeck war Vorsitzende der DAF, Horst-Eberhard Richter hielt den Hauptvortrag auf der Tagung, überhaupt war die DAF damals noch ziemlich fest in der Hand der Gießener Richter-Truppe (mit der Vorstellung, dass sich alles unter der Leitidee der Selbsthilfegruppe formieren sollte), auch wenn sich das zunehmend ändern sollte. Die Redaktion des „Kontext“ hatten Klaus Deissler, Wolfgang Dierking und Norbert Spangenberg inne (!). Systemisch? Davon war noch nicht viel die Rede. Die Machtverhältnisse und Personalia der DAF konnte ich damals aber noch nicht einschätzen, daher ließ mich das auch kalt.
Was mich nicht kalt ließ und einen bleibenden Platz in meinen Erinnerungen behalten wird, ist meine Teilnahme an einer Familienselbsterfahrungsgruppe, die von Walter Schwertl geleitet wurde. Er führte in die Technik des Genogramms ein, die mir aus der Literatur schon vertraut war, und lud die Teilnehmer ein, ihre eigene Familiengeschichte vorzustellen. So todesmutig wie naiv - und durch die frisch begonnene Analyse bestärkt - stellte ich mich mit meiner eigenen Familiengeschichte zur Verfügung. Da ich mich ja schon sehr gründlich mit meiner eigenen Familie auseinandergesetzt und ein umfangreiches Genogramm zusammengebastelt hatte, war es gar kein Problem, sehr schnell alle möglichen Daten aus meiner Biografie und der meiner Herkunftsfamilien zu präsentieren. Stolz, alle Daten so flüssig zur Hand zu haben, war ich leider überhaupt nicht darauf vorbereitet, dass es von negativen Rückmeldungen aus der Teilnehmerrunde nur so hagelte. Das sei doch völlig emotionslos vorgetragen! Als rede ich von einem Anderen! Bei dem, was ich über meine Kindheit erzähle, wäre meine affektive Betroffenheit ja gar nicht spürbar! Was aber wiederum für ein Kind, das seine ersten eineinhalb Lebensjahre im Säuglingsheim verbracht habe, auch kein Wunder sei! Ob ich mich denn nicht auch mal mit meiner intellektuellen Abwehr auseinandersetzen müsse?
Peng!! Mich traf der Schlag - völlig unvorbereitet. Walter Schwertl, den ich damals noch gar nicht kannte, bin ich bis heute dankbar. Er schaffte es nicht nur, mich mithilfe seiner eigenen emotionalen Präsenz einfühlsam durch diesen Workshop zu führen, ohne dass ich dekompensierte, sondern auch, dass ich jede Menge Anregungen mitnehmen konnte, die meine gerade begonnene Psychoanalyse zu einer Erfahrung machten, die mein Leben nachhaltig veränderten (und ohne die ich wahrscheinlich eine ganze Weile länger im „Widerstand“ verharrt hätte). Insofern war die Tagung für mich ein echtes Schlüsselerlebnis.
Als ich wieder zuhause war, hatte sich für mich eine Menge geändert. Mein Leben hatte eine andere Richtung bekommen. Meine Psychoanalyse auch. Und mein Glück war, dass mein mittlerweile leider verstorbene Analytiker und späterer guter Freund Endre Mohos mich in dieser Richtung mit seinem Interesse und seinem Wohlwollen immer bereitwillig begleitet hat. Ihm war schon damals viel klarer als mir, wohin dieser Weg für mich führen könnte. Dass er das nicht als Konkurrenz, sondern als Ressource begriff und früh förderte (z.B. durch Überweisung von Familien), macht mich noch heute froh.



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