Heiko Kleve: Professor oder Praktikant
Vor einigen Jahren, ich war Anfang 30 und bereits Professor für Soziale Arbeit, lud mich ein Berliner Jugendamt als Referent für eine Tagung zum Thema "Sozialraumorientierung" ein, um etwas über Fallverstehen in der sozialpädagogischen Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Familien zu referieren. Ich freute mich über dieser Einladung sehr, weil ich bestrebt war, meine theoretischen und methodischen Arbeiten hinsichtlich der systemischen Fallarbeit auch im Berliner Jugendhilfekontext zu diskutieren. Die Tagung startete an einem Montagmorgen. Ich machte mich bereits recht früh auf den Weg, weil ich hoffte, noch vor Beginn der Veranstaltung einige mir bekannte Kollegen zu treffen, um ein bisschen zu plaudern. Ich ging beschwingt in das Tagungsgebäude und sah bereits den Anmeldetisch, hinter dem einige JugendamtsmitarbeiterInnen saßen. Geschwind kam eine Mitarbeiterin auf mich zu. Ich konnte kaum "Guten Morgen" sagen, schon begrüßte sie mich mit den Worten: "Toll, dass du da bist; du bist doch unser neuer Praktikant!" Über diese spontane Begrüßung und Verwechselung war ich mehr als überrascht. Ich war perplex! "Nein", sagte ich. "Ich bin ein von Ihnen eingeladener Referent, Professor Heiko Kleve!" Das Gesicht der Kollegin rötete sich; sie bat mich viele Male um Entschuldigung. Ich dachte mir im Stillen: "Wenn die Mitarbeiter hier mit ihren Klienten auch so umgehen, sie kaum sehen und dann bereits in eine Schublade stecken, dann scheint systemisches Denken hier wahrlich noch nicht angekommen zu sein." Denn solches Denken geht doch erst einmal von einer Selbstreferenz aus: dass das, was mir zu Anderen spontan einfällt, mehr mit mir zu tun hat, als mit den Anderen. Daher ist Vorsicht geboten mit zu schnellen Kategorisierungen und Zuschreibungen. "Na ja, die Fachlichkeit scheint hier nicht gerade hoch zu sein", dachte ich schließlich. Im Laufe des Vormittags lernte ich dann sehr viel über dieses Amt. Die Kollegen diskutierten über Schwierigkeiten und über eine besonders problematische Kontextbedingung: über das hohe Durchschnittsalter der SozialarbeiterInnen des Amtes - ich glaube, dass dieses Alter bei ca. 50 Jahren lag. Nun war mir ein Reframing möglich: Wer in einer solchen Organisation arbeitet, dem müssen offenbar alle potentiellen Mitarbeiter, die jünger als 50 oder gar um die 30 sind, als Praktikanten, also als Berufsanfänger oder Studierende erscheinen. Dieses Erlebnis habe ich in den letzten Jahren des öfteren meinen Studierenden erzählt, offenbart es doch die Wichtigkeit der Kontextualisierung von Verhaltensweisen. Merke: Wenn du die Sinnhaftigkeit von Verhalten verstehen willst, erweitere deinen Blick, schaue auf den Kontext, der das Verhalten (sinnhaft) rahmt! |