Ulrich Schlingensiepen: Macht doch was Ihr wollt – Erweitere die Möglichkeiten
Berlin
im September 2003. „Systemische Supervision zwischen Macht und macht
nix“. Ein Kongress der Systemischen Gesellschaft , konkret des
Ausschusses für Supervision. Es ist der letzte Kongress, an dem ich
mit Heinz Kersting zusammen war, Wein getrunken, gelacht und die
unserer Einschätzung nach relevanten Dinge im Alltag des
Supervisionsgeschehens in der Republik abgehandelt haben. Heinz ist 2
Jahre später gestorben. Ihn in Aktion zu erleben, auf der Bühne, vor
der Bühne, mit und ohne Vortrag, laut und auch leise, die Krawatte um
20 Grad verdreht, seine Parallelbeiträge während der Vorträge, all das
habe ich in schöner Erinnerung. Heinz hatte mich damals gefragt, ob
ich nicht auch einen Workshop anbieten möchte. Das wäre doch was für
mich. Klar, ich wollte. Auf meine Frage, ob er es denn bitteschön etwas
genauer sagen könne antwortete er, dir fällt schon etwas ein – mach
doch was du willst. Und so wurde es. Stattgefunden hat der
Kongress in den Räumen der FU Berlin und auf dem Schild neben der Tür
des Workshopraumes S 20 stand: Beratungs-Environment: Macht doch was Ihr wollt – Erweitere die Möglichkeiten Richtig
gelesen. Wir, Ilona Lorenzen und ich, haben eine Beratungsumwelt in
Form einer Ausstellung angeboten. Durch die Begehbarkeit des
Environments durch den Betrachter wurde die Ausstellung zu einem
Workshop des Beobachters. Es war Kunst, Kunst spricht nicht und es
ging hier ums Selbermachen und Tun – oder auch nicht. Den Raum zu
betreten und sich zu entziehen war ohne polarisierende Haltung kaum
möglich. Es war ein absoluter Bruch mit dem klassischen
Kongress-Design. Vorträge, Redner, Experten, Beiträge von Teilnehmern,
die sich für ein bestimmtes Thema interessieren und Workshops besuchen,
von denen sie annahmen, Wissen zu akkumulieren, unterhalten zu werden.
Das alles wollten wir nicht. Unsere Idee war, mit diesem
Beratungsdesign einen Resonanzkörper zu konstruieren, der gleichermaßen
die Möglichkeit bot, Selbstreflexionsprozesse zu initiieren und Impulse
zu entfachen. Es hat funktioniert, die Beobachter begannen
miteinander zu sprechen, über Supervision, über Macht, über die
vielfältigsten Verknüpfungen und über vieles mehr. Sich konsequent
und ohne die Vermittlung von Wissenstransfer – mach was du willst –
über die Kunst und den Kunstbegriff sich dem Thema zu nähern, ist
gelungen, so sagen wir, und hat höllisch viel Freude gemacht . Etwas
aufzunehmen, wie es existiert, ist eine eher seltene Fähigkeit. Das
Sichtbare und Lesbare allein ist nicht genug. Es will erklärt werden,
Man sucht die Bedeutung und ist verdrossen, wenn sie nicht gefunden
werden kann. Das Unbekannte, So-noch-nie-Gesehene macht unruhig und
löst auch Ärger aus. Ilona und mir muss zugute gehalten werden, wir
haben Kaffee geboten (selbst gebrüht ist mindestens so gut wie selbst
gebacken)und kunstvoll gelächelt. Die Fähigkeit, trotz gängiger
Einsicht und Gewöhnung Sichtweisen zu verändern, ist nötig um „neu“ zu
gestalten und Anschlüsse anders zu verdrahten. Kunst spricht nicht,
verweigert den sprachlichen Dialog mit dem Künstler und zwingt den
Beobachter zu eigenem Tun. Kunst verlangt, mit der Wahrnehmung zu
experimentieren und starre Interpretationsweisen dabei aufzulösen um
alternative Perspektiven entwickeln zu können. Die Dinge sind nicht wie
sie sind, sie werden wie sie werden. Da war viel möglich. Mit den Füßen zu denken oder den Unterschied feiner Übergänge und Nuancenverschiebungen zu entdecken. Und
wem das nicht genug war, der konnte sich seines dritten Auges bedienen.
Die Beobachter – allesamt Berater/innen – wurden aufgefordert, während
der Ausstellung mit Digitalkameras zu fotografieren. Die Kamera ist
eine absolute Beobachtungsmaschine und hier versehen mit der Lizenz zum
Neugierig sein. Die Kamera erlaubt dem Benutzer Dinge zu tun, die ihm
ohne verwehrt blieben und verschafft Zutritt zu Orten, die uns
normalerweise verschlossen wären. Ganz schön machtvoll – macht aber nix! Und
es ist eine zusätzliche Perspektive, ein anderer Blick, der uns zu
Wahrnehmungs- und Reflexionsprozessen einlädt und Resonanzen erzeugt. Dieses
Experiment zu wagen verdanken Ilona Lorenzen und ich unserem Freund
Heinz Kersting. Er hat diesen Impuls ausgelöst und so etwas wie den
„seltenen Einfall“ bei uns „abgerufen“, der Phantasien braucht. Das
Beratungs-Environment braucht Phantasie, was schon gewesen ist kann als
Zukunft neu gedacht werden. Beratungs-Environment im Netz: Interessierte schauen unter www.schlingensiepen.de/Experimente |