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systemagazin special: "Kongressgeschichten"
Ruppert Heidenreich: Wie man Sachen gut zu Ende bringt

Ich brauche nicht zu überlegen, welcher Kongress mir eine Lieblings-Kongressgeschichte bescherte und wann das war. Wie oft habe ich schon von diesem Kongress erzählt: „Wie man Sachen gut zu Ende bringt“ vom 13.-15.März  2006 im Helm-Stierlin-Institut in Heidelberg.
Das Thema  stand natürlich im Kontext supervisorischer und therapeutischer Prozesse. Aber es hatte für mich eine besondere Bedeutung. Es waren noch ziemlich genau 3 Monate bis zum Beginn meines Ruhestandes. Und jetzt erst weiß ich, warum mir dieser Kongress damals auch so wichtig war, dass ich mir dafür die Zeit und Urlaub nahm. Denn so ein Jahr vor meiner Pensionierung hatte ich die fixe Idee:  Wenn ich in den Ruhestand gehe, dann wollte ich noch alle möglichen (und vor allem unmöglichen) Dinge erledigen. Ich merkte, wie ich unleidlich wurde für meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Ministerium, weil ich anfing, Druck zu machen, dass dieses oder jenes doch noch fertig würde, bevor ich gehe.
Eigentlich konnte ich mir die drei Tage in Heidelberg gar nicht leisten bei all der Arbeit, die ich an meinem Schreibtisch noch bewältigen wollte. Aber dann fuhr ich doch, teilweise mit schlechtem Gewissen, zum Kongress. Zum Kongressbeginn bot Andrea Ebbecke-Nohlen  mit ihrem Beitrag „Auch dem Ende wohnt ein Zauber inne …“ die Perspektive des bereits geschehenen Wunders. Zeitreisen und systemisch-konstruktivistische Skulpturen führten mich zu meinen Ressourcen, Zielen und Wegen. Ich begann zu begreifen, dass ich aus der Perspektive des erreichten Ziels auf das Vergangene zurückschauen kann. Immer wieder wanderten meine Gedanken an den Arbeitsplatz in meinem Ministerium, von dem ich mich in großer Hektik und erheblichem Termindruck zum Kongress begeben hatte. Was trieb mich so entsetzlich an, noch unbedingt tausend Sachen zu Ende bringen zu wollen, bevor ich meinen Arbeitsplatz endgültig verlasse?
Am ersten Abend ließ mich Gerhard Wolf „Schwung holen für den Umstieg“. Mehr und mehr ließ ich mich auf Fragen ein, die mich eher irritierten: „Wie könnten Sie Ihr Ende gut vermasseln?“ oder „Was wird Ihr Nachfolger/ Ihre Nachfolgerin besser machen als Sie“ oder „Was reizt Sie daran, Projekte zu beginnen und ziemlich sicher zu wissen, dass Sie sie nicht zu Ende führen?“  - „Vermisse ich meine Macht und wie bin ich auf andere Weise mächtig?“
Noch verwirrt über manche Antworten, die ich mir gegeben hatte, ging ich in die Aula, wo Friedrich Schorlemmer zum Abschluss des ersten Kongresstages über den „Absturz in die Freiheit“ sprach. Jetzt begannen meine Antworten sich allmählich zu verknüpfen mit meinen Zielen und Wünschen, Sehnsüchten, aber auch Ängsten und erlittenen Kränkungen. Ich hatte eine unruhige Nacht, lag immer wieder wach und die Gedanken kreisten, es war noch immer Unordnung im Denken.
„Live-Changes“, ein Vortrag von Heliane Schnelle, machte mir am nächsten Morgen deutlich, dass diese Wechsel im Leben immer wieder stattfinden, dass es darauf ankommt, sie zu gestalten. Der Gedanke begann zu keimen: Ich will meinen Abschied gestalten. Nur dann werde ich mich auch wirklich verabschieden können. Da war der faszinierend authentische Vortrag von Andrea Fischer, der ehemaligen Gesundheitsministerin, über ihren langen Abschied von der politischen Bühne („Über die Herausforderungen des Endes vom Öffentlichen Amt“) eine wunderbare Ergänzung. Nein, ich wollte nicht so abserviert werden wie Andrea Fischer, ich wollte nicht Spielball des Abschieds sein, sondern Akteur. Und niemand hinderte mich, Akteur zu sein. Da hatte ich bessere Chancen als Andrea Fischer.
Am Nachmittag ließ ich mich dann auf  Gunther Schmidt ein:  „Kein  Werden,  kein Vergehen …?“  Wie kann ich die Botschaften aus der Vergangenheit für die Zukunft nutzen? Er führte mich in die  Phantasie „Ich möchte eine Wunschperson (in Zukunft) sein. – Wie würde sie aussehen? Wie könnte ich mit dieser Wunschperson Kontakt aufnehmen?“ Ich traf mich mit dieser Wunschperson, mit meinem Horror-Ruppert und mit meinem Wunsch-Ruppert. Ich begann zu unterscheiden, ich spürte meine Ressourcen und  konnte den Wunsch-Ruppert immer deutlicher beschreiben und den Weg dorthin. In mir stieg ein Gefühl der Euphorie auf. Immer deutlicher begann ich  einen gangbaren und für mich guten Weg für meinen Abschied aus dem Ministerium zu erkennen. Ich konnte das Tagungsfest am Abend genießen, mich der guten Stimmung hingeben, tanzen.
Der letzte Kongresstag begann mit dem Thema „Das Ende mit dem Anfang verbinden“ von Rolf Verres. Ich wollte erst gar nicht hingehen. Der gestrige Abend dauerte länger als erwartet und ich wollte  das Gefühl der Euphorie in den letzten Kongresstag hinüberretten und mir nicht mit Theorie den Anfang des letzten Tages gleich vermasseln. Aber dann war ich doch um 09:00 Uhr da und Rolf Verres spielte auf dem Klavier Improvisationen und gab sanft zurückhaltend Kommentare,  wie sich in der Musik das Thema am Anfang eines Musikstückes wieder am Schluss einfindet, wie es variiert und  neu bearbeitet wird und neues Erleben auslöst. Allein diese Idee, Anfang und Ende musikalisch darzustellen, war es wert, an diesem Morgen pünktlich im Kongress zu sein. Abgesehen von den Improvisationen, die Rolf Verres grandios spielte.
Der Abschluss dieses Kongresses war ein gelungenes Beispiel, wie Inhalt und Form zusammen passen können. Carmen Kindl-Beilfuß moderierte ein Abschiedsritual, das in besonderer Weise zu diesem Kongress, zu meinem Erleben und meinen Perspektiven und Vorhaben passte: Abschiedsgefühle, -melodien und –bilder. „Wer kennt ein Abschiedslied?“ Erst zaghaft und dann meldeten sich immer mehr. Carmen Kindl-Beilfuß verstand es, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu ermutigen, doch ihr Abschiedslied zu singen. Und alle, die sich gemeldet hatten, taten es, anfangs noch etwas zögernd, live ins Mikro singen vor 250 Menschen. Und es passierte etwas Wunderbares: die, die das Lied kannten, begannen mitzusingen. Der Kongress sang Abschiedslieder, bestimmt waren es 20 – 25.
Und zum Schluss wurden Papierschwalben gefaltet aus Blättern, auf denen Abschiedssprüche standen. Jeder schrieb zu diesem Abschiedsspruch einen eigenen hinzu, faltete das DIN A 4 Blatt zu einer Schwalbe und warf sie in den Raum. Jeder fing eine Schwalbe auf und konnte sie auseinander falten und die beiden Sprüche lesen, die er am Kongress „gefangen“ hatte. Ich fing: „Nichts im Leben ist hoffnungslos traurig: Selbst eine Träne, die die Wange hinab rollt, kitzelt!“ Darunter hatte jemand einen eigenen Spruch geschrieben: “Es geht immer irgendwie weiter …….. Und in jedem Abschied liegt immer auch die Hoffnung auf einen Neuanfang.“ Zugegeben - keine Sprüche von philosophischer Tiefe! Aber für mich waren sie in dieser Situation genau richtig und brauchbar.  Ich habe die Papierschwalbe mit den Sprüchen heute noch und sie sind noch immer wirksam.
Der Kongress war zu Ende. Auf der Zugfahrt nach Hause habe ich nicht gelesen, keine Musik gehört, nichts geschrieben. Ich habe zum Fenster hinaus gesehen und die Gedanken formierten sich zur Gestaltung meines Abschieds im Ministerium. Als Erstes stellte ich  mir vor, dass mein Nachfolger / meine Nachfolgerin meine Arbeit weiter führt und manches vielleicht besser oder erfolgreicher machen kann als ich. Das Gefühl war da: Es gibt im Ministerium ein Leben nach mir. Ich muss gar nicht alles bis zur Pensionierung  fertig machen. Und meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden mich dafür lieben.
Als Zweites überlegte ich, wie ich im Ministerium das übliche und erwartete Ritual einer Verabschiedung gestalten kann, und doch dabei etwas Eigenes mache, das zu mir passt: Ich werde ein bildungspolitisches Kabarett einladen, das im Ministerium eine etwas andere Sicht der Bildungspolitik darstellt als üblich. Ich will keine Reden haben, weder von der Ministerin oder vom Staatssekretär noch vom Personalrat oder der Gewerkschaft. Stattdessen will ich in vielen Gesprächen von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die zu meiner Verabschiedung kommen, Abschied nehmen. Dazu ist nämlich bei den oft langatmigen und sich inhaltlich wiederholenden Reden viel zu wenig Zeit. Als ehemaliger Lehrer habe immer gerne mit Schülerinnen und Schülern zusammen gearbeitet. Deshalb soll bei der Verabschiedung eine Schülerfirma das Catering übernehmen, damit wir beim Abschiednehmen etwas zu essen und zu trinken haben. Ich werde eine Rede aus zwei Sätzen halten: 1. Danke für die Zusammenarbeit! und 2. „Mat et juut!“
Den Einladungstext zu meiner Abschiedsfeier habe ich mit jenem Teil aus dem Märchen vom „Teufel mit den 3 Goldenen Haaren“ begonnen, wo der Fährmann fragt, warum er denn immer die Fähre fahren muss und niemand ihn ablöst, und der Prinz ihm sagt, dass er nur dem nächsten Fahrgast den Fährstab übergeben müsste, dann würde dieser die Fähre in Zukunft steuern müssen.
Es war ein Abschied, der bis heute für mich tragfähig ist. Viele Kolleginnen und Kollegen waren begeistert vom Kabarett, von den Schülern einer Schule für Lernbehinderte, die mit viel Liebe ein tolles Catering gestaltet hatten, manche waren auch irritiert. „Wir werden uns doch sicher demnächst noch mal hier sehen! Sie kommen doch bestimmt mal vorbei!“ – „Nein! Wir werden uns vermutlich nicht wieder sehen. Ich verabschiede mich heute von Ihnen. Und wenn die Fügung des Schicksals unsere Wege noch mal zusammen führt, dann ist das eine schöne Fügung. Aber ich habe nicht mehr die Absicht, in dieses Haus zurückzukehren.“ Erneute Irritation!
Ohne den Kongress wäre ich vermutlich zutiefst unglücklich aus dem Ministerium gegangen: So viele Dinge waren nicht erledigt, nicht zu Ende gebracht. Die schönen Reden meiner Chefs hätten mir vorgegaukelt, dass ich doch ein treuer Beamter gewesen sei, der so Vieles bewegt habe. Aber tief drinnen hätte ich das Gefühl gehabt, nach einem fast 45-jährigen Berufsleben gescheitert den Dienst zu verlassen.
Ich habe in meinem Leben viele Abschiede nehmen müssen, die ich nicht gestalten konnte. Ich musste im Januar 1945 plötzlich an einem Winterabend bei - 30° C mit meiner Mutter auf die Flucht von Schlesien in den Westen gehen und musste meine Spielsachen, mein Zimmer und Bett zurück lassen. Auf der Flucht gab es viele Stationen, mal länger mal kürzer, immer wieder musste ich plötzlich von einem Ort weg, ohne dass ich Zeit gehabt hätte, mich zu verabschieden. Mein Vater starb, erst 51 Jahre alt, plötzlich an einem Herzinfarkt. Wieder kein Abschied! Aber diesmal! Diesmal war ich Akteur und habe mich verabschiedet, wie ich es brauchte.
Wie oft habe ich von diesem Kongress schon erzählt. Jetzt habe ich es mal aufgeschrieben. Und ich merke, wie gut es mir dabei geht.



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