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systemagazin special: "Kongressgeschichten"
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Thomas Keller, Köln: … wonach Du die ganze Zeit gesucht hast
Ende der 70er Jahre kam ich nach rund 8 Jahren psychiatrischer
Tätigkeit zu dem Schluss, dass Psychoanalyse schon aus zeitökonomischen
Gründen nicht die Psychotherapie im psychiatrischen Alltag werden
könnte. Ein Analytiker machte mich auf die Arbeit der Palo-Alto-Gruppe
aufmerksam, und ich beschloss, in diese Richtung weiter zu gehen. 1981
(oder 82?) organisierten Helm Stierlin und seine Truppe in Heidelberg
eine Tagung mit dem aus meiner heutigen Sicht etwas merkwürdigen Titel
"Die Psychotherapie der Schizophrenie". Das meiste riss mich nicht so
vom Hocker, aber bei der letzten Präsentation des letzten Tages war ich
plötzlich elektrisiert: Gianfranco Cecchin und Luigi Boscolo zeigten
ein Video mit einer Konsultation in Kanada, ich erinnere mich noch
genau an die Geschichte der beteiligten Familie. Ich dachte spontan:
Das ist es, wonach du die ganze Zeit gesucht hast! Mein weiterer Weg
wurde über Jahrzehnte maßgeblich daurch beeinflusst.
Ulrike Borst, Münsterlingen: …kein Stein mehr auf dem anderen
Im Oktober 1989 fand in Heidelberg die Tagung mit dem Titel „Die
Behandlung psychotischen Verhaltens“ statt. Ich hatte nur wenige Monate
zuvor die Stelle gewechselt, war von der biologisch orientierten
Schizophrenieforschung an der Uni Konstanz an eine psychiatrische
Station mit Schwerpunkt Schizophreniebehandlung in der Schweiz
übergewechselt.
Von meinem naturwissenschaftlich geprägten Denken her hatte mir bis
dahin die Verhaltenstherapie am nächsten gelegen, und ich hatte mich –
noch etwas halbherzig – während Studium und Promotion in dieser
Therapieform weitergebildet. Bei der neuen Arbeit stieß ich nun aber
ständig an meine Grenzen und die Grenzen der Methode, vor allem, wenn
ich mit Familien zu tun hatte. Mir dämmerte schnell, dass ich
familientherapeutisches Wissen und Können brauchen würde. Das
Heidelberger Programm schien verhaltenstherapeutische und systemische
Varianten der Familientherapie in einem handlichen Paket zu vereinen.
Was für ein Schock dann an der Heidelberger Tagung! Oder besser - mehrere Schocks:
Mara Selvini-Palazzoli sprach von „dirty games“ in Familien. Sie
attackierte die Verhaltenstherapeuten wie zum Beispiel den
sympathischen und ruhigen Ian Falloon; mit ihrem Charisma hatte sie die
Lacher auf ihrer Seite. Mir verging das Lachen.
Lyman Wynne versuchte die Integration und fragte: Wann ist es hilfreich
für Patient und Familie, von „Krankheit“ zu sprechen, wann nicht? Seine
Position fand für meinen Geschmack zu wenig Beachtung. War sie zu
vernünftig? Zu wenig schillernd? Nicht polarisierend genug?
Luigi Boscolo führte vor einem Publikum von 300 Personen ein
Life-Interview mit einem Mannheimer Patienten und seiner Ehefrau. Der
Mann war deutlich erkennbar in einer psychotischen Episode. Boscolo
stellte seine Fragen in Englisch mit italienischem Akzent, Helm
Stierlin übersetzte ins Hochdeutsch. Boscolo fragte die Ehefrau unter
anderem, was sie denn anders mache, wenn ihr Mann sich verwirrt zeige.
Die Frau daraufhin: „Hä? Verwirrt? Er ist doch krank.“ Am Schluss gab
Boscolo offenherzig zu, dass das Interview ihm nicht gut gelungen sei.
Ich war beeindruckt: vom mutigen Paar, vom mutigen Luigi Boscolo, von
den komplizierten Fragen, von Boscolos Ehrlichkeit.
Für mich stand anschließend kein Stein mehr auf dem anderen. Die
folgenden fast zwei Jahrzehnte lang bemühte ich mich – mit Erfolg, wie
ich glaube – darum, die scheinbar unvereinbaren Positionen der
verhaltenstherapeutischen und der systemischen Variante der
Familientherapie unter einen Hut zu bekommen. Für die
Verhaltenstherapie als „Schule“ war ich allerdings verloren und machte
eine systemische Weiterbildung. Bei Rosmarie Welter-Enderlin, Reinhard
Waeber, Bruno Hildenbrand und Röbi Wäschle in Meilen fand ich solides
Handwerk hinter faszinierenden systemischen Ideen.
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