Liebe Leserinnen und Leser,
heute möchte ich von einem Theatererlebnis berichten, dass mich
beeindruckt und zu einem erweiterten Verständnis der Möglichkeiten
narrativen Erzählens angeregt hat: „Der Familientisch“ – eine
Uraufführung im Rahmen der Wiener Festwochen, inszeniert von dem
israelischen Regisseur David Maayan und den sich selbst mit ihrer
eigenen Familiengeschichte präsentierenden SchauspielerInnen.
Die TheaterbesucherInnen finden sich vor dem „Schauspielhaus“ in der
Porzellangasse ein, um die Ecke das ehemalige Sigmund-Freud-Wohnhaus in
der Berggasse. Ab nun wird durch Wien gewandert; nach Zufallsprinzip
werden wir in Gruppen zu je 8 Personen ein- und damit einer
Schauspielerin/einem Schauspieler zugeteilt. Jella, „meine“
Protagonistin, führt uns zunächst in ein Beisl und legt uns die
eingehende Betrachtung eines altmodisches Fotoalbums ans Herz: ich sehe
sorgfältigen Beschriftungen der Fotografier-Anlässe (Heirat von Onkel
Franz, Taufe von Fridolin), es fehlen nur - die Fotos. Wieder auf der
Straße nimmt Jella nach und nach Kleidung, Stimme und Habitus ihrer
Großeltern und diverser Tanten an und erzählt Fragmente aus dem Leben
ihrer Eltern. Zwischendurch finden wir uns in einer chaotischen Wohnung
wieder, wo sie sich ein Schreiduell mit ihrer (unsichtbar bleibenden)
magersüchtigen Tochter liefert, die sich in ihrem Zimmer
verbarrikadiert hat; ein Sit-in im Sinne elterlicher Präsenz bleibt uns
erspart. Familientherapie, vertraut Jella uns an, brauche sie nicht,
SIE sei ja nicht die, die krank ist.
Weiter geht es kreuz und quer durch die Stadt, Jella entnimmt ihrem
mitgeführten Handwagerl ständig neue Requisiten, Perücken, Utensilien,
um uns wichtige Personen und Szenen aus ihrer Familiengeschichte zu
veranschaulichen, fuchtelt mit einer Pistole herum, mit der ihr
Großvater sich erschossen hat (oder erschießen wollte?), was unter den
PassantInnen einiges Aufsehen erregt. Die Leute sehen misstrauisch oder
freundlich drein und grübeln sichtlich: Ist das jetzt eine der vielen
Gestörten? Und wenn nicht, was ist sie dann? Junge Amerikaner zücken
ihre Kameras, Kinder fragen an, ob die Pistole geladen sei. Ich bin
nicht echt verrückt, ich spiele nur, lässt unsere Künstlerin das
Publikum wissen. Zirkuläres Zuschauen: Wir schauen zu, die Wiener (und
Fremden) schauen uns zu, wie wir zuschauen, die Schauspielerin schaut
uns zu.
Schließlich landen wir in einem Pensionistenheim. Jella führt uns in
dessen Hof, in dem ein uralter jüdischer Friedhof restauriert wurde:
die Grabsteine aus dem 13. bis 16. Jahrhundert stehen für - so versuche
ich diesen Abstecher zu verstehen - den jüdischen Zweig von Jellas
Familie. In der Straßenbahn lässt unsere Führerin, die mir inzwischen
ans Herz gewachsen ist, eine Schnapsflasche kreisen und spielt auf der
Ziehharmonika, wir singen mit und beginnen uns als Gruppe/Gemeinschaft
zu fühlen.
Vorläufige Endstation der Wanderung durch Jellas Biografie ist der
Wiener Westbahnhof, wo wir wieder mit den anderen 10 Gruppen und deren
Protagonisten zusammentreffen: ein Schauspieler aus Zimbabwe, eine
Wienerin im Rollstuhl, eine Japanerin, ein junger Serbe, Einheimische
und Zuwanderer aus verschiedenen Generationen. Wir ZuseherInnen (und
MitspielerInnen) bekommen Koffer in die Hand gedrückt und stolpern über
Rangiergleise in eine abgelegene Nebenhalle. Die Schauspieler lassen
ihre Koffer aufgehen und verstreuen deren Inhalt; Fotos, Kleider,
Schuhe, Puppen kullern auf den Boden und lassen Geschichten von
Hochzeiten, Geburten, Todesfällen, Verlorenem und Wertvollem erahnen.
Der Afrikaner hält sich an einem Holz-Nilpferd fest, eine Frau tröstet
ein unsichtbares Baby, ein Mädchen hat seine Kofferschreibmaschine
dabei, ein Bursch seine rote Fahne. Das Reisen in allen Formen -
Tourismus, Migration, Fremde, Heimat, Heimweh, Unbehaustheit - wird
beleuchtet und widergespiegelt in den Schicksalen der Familien.
“REISEN? Existieren ist Reisen genug“ (Fernando Pessoa, zitiert im Programmheft).
An einem riesigen quadratischem „Familientisch“ wird schließlich ein
echtes Mahl (Gnocchi mit Tomaten-Soße, Wein) serviert. Aus Klappen in
der Mitte der Tafel, die nun zur Bühne wird, tauchen die Schauspieler
auf wie bei Beckett aus den Koloniakübeln, ein Sprach- und
Stimmengewirr hebt an. Die SpielerInnen erzählen von ihren Eltern,
ihrem Leben in der Ferne, von ihren verlorenen Häusern, zersprengten
Existenzen. Verwandlung - jetzt protestieren sie als Eltern gegen die
Erzählungen ihrer Kinder: Was verbreitest du für Unsinn über mich?
Nicht nur die Spieler tauschen sich aus, auch die Besucher erzählen
einander in der Pause und beim Essen von ihren unterschiedlichen
Erlebnissen, beim Rollstuhlfahren durch die Stadt, von einer
improvisierten Familien-Aufstellung im Burggarten, vom vorsichtigen
Schleichen durch die Gassen eines gefährlichen Viertels oder der
Heimsuchung durch die rhodesische Polizei auf Terroristensuche im
heimatlichen Dorf. Wie hat es mich berührt mitzuerleben, wie mein
Cousin im Park-Kral erschossen wird?
Familienrekonstruktion, Psychodrama, Selbsterfahrung auf der Bühne? Die
Performance von elf Menschen, deren familiäres Leben in Wien seinen
Ausgang nahm oder von anderswo auf diese Stadt zulief, war ein
aufregendes, sinnliches Spektakel. 11 Leute vermitteln 88 anderen
bedeutsame Splitter aus ihrer Geschichte. Wäre es umgekehrt, was käme
da heraus? Oder bräuchte ich meine eigene Geschichte nicht mehr
erzählen, da sie doch irgendwo in all den anderen mit enthalten ist? In
dieser Aufführung blieb das „Narrative Erzählen“ kein Erzählen, es
wurde miterlebbares, saftiges Drama. Und eine therapeutische Anregung
dazu, der Narration von Familien- und Selbstgeschichten nicht nur in
Sprache nachzugehen, sondern sie auch mittels bedeutsamer Orte und
Gegenstände zu reflektieren. Auch Therapie ist Reisen.
Mit herzlichen Grüßen aus Wien,
Andrea Brandl-Nebehay
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