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Andrea Brandl-Nebehay - Briefe aus Östererreich Nr. 1, 16.5.2005
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Liebe Leserinnen und Leser!
Das Jahr 2005 beschert uns insbesondere in Europa und Deutschland
zahlreiche Feiern und Gedenkveranstaltungen zum sechzigsten Jahrestag
des Kriegsendes 1945. Auch in Österreich ist dieses Jahr mit einer
Reihe würdig-routiniert begangener Festakte als Gedenkjahr angelegt, es
soll gedacht, gedankt und nachgeforscht werden. Vor 60 Jahren, im
Frühling 1945, wurde Österreich vom Faschismus befreit, aus der
„Ostmark“ wieder Österreich und die 2. Republik gegründet. Am 15. Mai
1955 wurde der Staatsvertrag unterzeichnet, der Österreich nach 10
Jahren Besatzung und Aufteilung des Landes in je eine
amerikanische, britische, französische und russische Zone wieder
Freiheit und Unabhängigkeit von den Siegermächten bescherte.
Dieses Frühjahr auch eine Hoch-Zeit des Erzählens: in Dokumentationen
zu allen erdenklichen Aspekten der Kriegs- und Nachkriegsjahre
berichten ZeitzeugInnen von ihrem Erleben des Überlebens. Die
Generation meiner Eltern erzählt Vergessenes, nie Erzähltes, nie
Zugehörtes, verschämt Verschwiegenes, Marginalisiertes; sie bekommt
damit - vermutlich zum letzten Mal – eine Bühne. Grauenvolle Opfer- und
Tätergeschichten werden öffentlich, und die zugrunde liegenden
Geschehnisse in ihren Auswirkungen auf die Nachkommenden spürbar.
Angehörige der zweiten Generation versuchen bruchstückhaft das in den
Familien Nicht-Ausgesprochene in Worte zu fassen.
Ich habe viele dieser Dokumentationen in Fernsehen und Zeitschriften
mit ähnlicher innerer Beteiligung verfolgt, wie wenn die erzählenden
ZeitzeugInnen bei mir im Therapieraum wären - ich hätte gerne
mitgeredet, nachgefragt, aktiv Anteil genommen. Und ich begann mich zu
fragen, wie der Blick auf die Geschehnisse vor 60 Jahren und danach –
fortwirkend bis heute – unserer/Eure systemisch-therapeutische Arbeit
befruchten kann. Für die seelische Auswirkung geschichtlicher
Katastrophen gilt das bekannte Paradoxon, das weniger das Gesagte, als
vielmehr das Ungesagte Wirkungen zeigt und eine problematische
Vergangenheit fortwirken lässt. Dies gilt für den „speechless terror“
der Traumatisierten ebenso wie für das Schweigen in Täterfamilien, die
Sprachlosigkeit unserer (Groß)Väter und (Groß)Mütter. Es gilt also die
Sprache wieder zu finden gegenüber dem schweigenden Übergehen und der
seelischen Erstarrung, die die vergangene Katastrophe, den Terror, mit
ermöglichte und zugleich auch eine wesentliche Folge war.
In einem narrativen Verständnis systemischer Therapie wird der
Zeitfokus Gegenwart und wünschenswerte Zukunft um den historischen
Aspekt der Lebensgeschichte(n) erweitert und nutzbar gemacht. Die
verstärkte Berücksichtigung der Zeitdimension Vergangenheit - nicht nur
als Quellmaterial für das Aufspüren von „Ausnahmen“ - vernetzt die
Zeiten zu einem „selbstreflexiven Kreislauf“ (Boscolo) von
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Nicht (nur?) die Vergangenheit
beeinflusst die Gegenwart, sondern Gegenwart und Zukunft lässt uns die
Vergangenheit auf bestimmte Weise konstruieren, verstehen, erzählen.
Bleibt die Hoffnung, dass ein veränderter Blick auf die beschämenden
Aspekte der jüngeren Vergangenheit auch Lösungsdiskurse in Gegenwart
und Zukunft fördern möge: Systemische Therapie als Hilfe dabei, Sprache
gegen den ungesagten Schrecken entwickeln zu helfen, die Leerstellen
der familiären Tradierung aufzufüllen mit Narrativen, die das erlebte
Leben in eine reflektierbare Geschichte verwandeln, die über Stehsätze
wie „das war halt damals so“ hinausreicht.
Gerade in dieser Zeit der wieder und vermutlich letztmalig
intensivierten narrativen Auseinandersetzung mit der
deutsch-österreichischen Koproduktion „Tausendjähriges Reich“ mutet
eine Rubrik mit dem – von Tom Levold ironisch eingeführten – Titel
„Feldpost“ tatsächlich „anstößig“ an. Die Feldpost wurde in
Kriegszeiten verwendet um die Soldaten im Feld mit der Heimat zu
verbinden. Anstoß also, mich zu fragen, aus welchem Feld, von welcher
Front, von welchen Schlachten und Kämpfen ich berichten soll? Und ob
wir nicht diese Gelegenheit benutzen sollen, wenigstens in unserem
Bereich hinkünftig zu ‚de-militarisieren’, gerade weil heute statt
‚Abrüstung’ weltweit eine Tendenz zur Aufrüstung sichtbar wird.
Teilweise unter dem Titel ‚Kampf dem Terrorismus’, was uns die neue
Schwierigkeit beschert zu klären, welcher der Schrecken größer ist –
der beklagte Terror oder die gegen ihn erfundenen Abwehrmaßnahmen.
Feldpost? Hier gilt es noch ein passendes reframing zu finden. Dieser
erste Brief aus Österreich ist ein wenig in Richtung des dieser Tage
dominanten Diskurses zur Betrachtung der höchst unerfreulichen
deutsch-österreichischen Vergangenheit ausgeufert. Ich verspreche
Besserung und werde im nächsten Bericht vom aktuellen „Feld“ der
österreichischen systemischen Szene berichten.
Mit herzlichen Grüßen aus Wien,
Andrea Brandl-Nebehay
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