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Teresa Quintana: Briefe aus Chile - Nr. 1, 23.10.2005: Übersetzen als Konstruktionsprozess

Teresa Quintana
Lieber Leserinnen und Leser,

Als ich letztes Jahr am Berliner EFTA-Kongress teilnahm, konnte ich die Gelegenheit nicht finden, Tom Levold persönlich kennen zu lernen, obwohl wir vorher im Zuge der Programmvorbereitung bereits “virtuellen Kontakt“ aufgenommen hatten. Als mich Tom dann fragte, ob ich Lust hätte, für das systemagazin etwas zu schreiben, freute ich mich sehr und sagte mir: virtuell fing es an, virtuell soll es dann auch weitergehen - vor allem, wenn so viele Kilometer zwischen Europa und Chile liegen, aber auf diese Weise schnell überwunden werden können.
Es gibt bestimmt viele Themen,  über die man sprechen könnte, über unser Land, das wahrscheinlich die wenigsten KollegInnen kennen, über unsere Ausbildung und unseren Stand der wissenschaftlichen Entwicklung. Zuerst möchte ich aber ein Thema ansprechen, das uns im Augenblick beschäftigt. In Zusammenarbeit mit einem spanischen Übersetzer und anderen chilenischen Kollegen aus verschiedenen Psychotherapieschulen arbeiten wir an einer spanischen Übersetzung des “Wörterbuches der Psychotherapie” von Gerhard Stumm und Alfred Pritz aus dem Springer Verlag. Was am Anfang sozusagen eine lineale eins-zu-eins-Übersetzung werden sollte, verwandelt sich während des Übersetzungsprozesses in einen komplizierten Vorgang, der uns zu transkulturellen Einsichten führt, vor allem in Bezug zu Themen wie Sinn (Bedeutung), Theorie, Erfahrung usw. Begriffe wie Seele, Geist und Psyche sind offenbar nicht ohne Weiteres zu übersetzen bzw. in eine Entsprechung zu Konzepten wie alma (Seele oder Geist), espíritu (Geist) oder mente (Seele?, mind) zu bringen. Andere Konzepte wie setting zB., haben keine eigene Übersetzung in der deutschen Sprache und werden „übernommen“ und verwendet, im gegensatz zu Spanisch, wo es den selben Begriff gibt und verwendet wird, aber auch ein „Eigener“ ensteht: encuadre. „Absichtslosigkeit, ein Begriff vom Focusing – Modell, wird, anstatt der linealen Übersetzung, „sin intencionalidad“, als „autopropulsado“ genannt, womit der Sinn sozusagen, in eine ganz andere Richtung führt. Die Frage stellt sich dann, welche Kriterien wir bei einer Übersetzung benutzen? Und weiter,  ob wir heutzutage als Psychotherapeuten überhaupt das Selbe unter den verschiedenen Begriffen verstehen? Inwiefern spiegelt sich in diesen Begriffen eine spezifische Anpassung an die jeweilige Umwelt und Kultur?
Beim Schreiben werden komplexe Ideen und Bedeutungen in eine lineare Form gebracht, die im günstigen Fall wieder in ihrer komplexen Bedeutung nachvollzogen werden können. Das Problem der Übersetzung scheint mir in der Aufgabe zu liegen, eine Transformation dieser linearen Form zu finden.  Für die Übersetzung gilt aber das Gleiche wie für das Schreiben: Wir müssen beim Schreiben auf unsere inneren Bedeutungsgebungen zurückgreifen und diese entwickeln sich nicht  linear.
Allerdings wird durch Schriftlichtkeit eine Art von Objektivität dieser persönlichen Vorstellungen erzeugt, die mit der Zustimmung der Sprachgemeinschaft zu tun hat. (Konsens) Die Assoziation von Form und Inhalt scheint dann von der Subjektivität des “Sprechenden oder Schreibenden” unabhängig zu sein.
Im Sprechen oder Schreiben konstruieren wir Sinn und Bedeutung, die nicht in den benutzten Wörtern selbst liegen. Auch wenn es linguistische Konstruktionen gibt, die zunächst unabhängig von den Personen existieren, die sie gebrauchen (Wörter, Ausdrucksweisen, grammatische Formen), sind wir beim Verstehen eines Textes auf einen interpretativen Prozess angewiesen, der ganz von unserer Person abhängig ist.  Das heisst, wir konstruieren Sprech-Akte (speech acts) und Bedeutungs-Akte (meaning acts) gleichermaßen und in dieser Konstruktion (lenguajear von Maturana) tritt unser spezifischer Kontext und unsere persönliche Geschichte auf eine Weise hervor, (wo) dass das Resultat nicht voraussagbar ist.
Wo landen wir dann im Gespräch und in der Übersetzung?  Da kommt mir das Konzept der konsensuellen Koordinationen von Maturana bzw. Kurt Ludewig in den Sinn: wenn sich die verschiedenen Begriffe einer Konsensualisierung im sprachlichen Prozess verdanken und von ihm  gesteuert und benutzt werden, gehören sie zur jeweiligen kulturellen Realität. Das heisst, die Begriffe bekommen einen Sinn und eine Form, die mit der Absicht und Benutzung zusammengebunden ist. Sind denn dann, über diese Kulturgrenzen hinweg, die psychotherapeutischen Modelle und Interventionen überhaupt vergleichbar? Kann man sie gleichermaßen hier wie dort benutzen und einsetzen?
Diese Frage wird durch die Tendenz der Globalisierung zugespitzt. Ist eine Übersetzung der Konzepte, nicht nur der Wörter, wirklich “machbar” oder müssen wir nicht vielleicht sehr vorsichtig damit umgehen und davon ausgehen, dass ähnliche Begriff Bedeutungen teilen  können, aber noch längst nicht “dasselbe” darstellen? Wir beschäftigen uns mit diesen und vielen andere Fragen. Vielleicht gibt es keine Antwort dafür, trotzdem ist es eine große Herausforderung, denn auch wir befinden uns (in unserem eigenen Sprachraum) in einem Prozess der Konsensualisierung.

Herzliche Grüße aus Chile

Teresa Quintana



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