Gisal Wnuk-Gette: Es grenzt vieles an Zauberei und Hexerei
1975 – ich arbeite als Wissenschaftliche Assistentin an der Universität Konstanz, Fachbereich Eziehungswissenschaft, Schwerpunkt Sozialarbeit/Sozialpädagogik; bin als Mittelbau-Vertreterin im Großen Senat, bin davon überzeugt, dass ich alles schaffe, was ich will und meine Überheblichkeit anderen gegenüber bemerke ich nur selten. Gleichzeitig ist mir die Uni-Tätigkeit zu abstrakt, fast langweilig und ich bin auf der Suche nach etwas Interessanterem. Ein Ausbildung in analytischer Gruppentherapie habe ich in Zürich gerade abgeschlossen, aber das war es auch nicht. Eigentlich will und muss ich promovieren, aber dieses Projekt stagniert: Themenbereich: „Familientherapie als Methode sozialer Arbeit?!“; ich habe dazu viele Artikel aus Family Process gelesen und verarbeitet und mich durch einige englische Bücher über Familientherapie gequält; besonders beeindruckend waren für mich Salvador MINUCHINs: „Families of the Slums“ und die Bücher von Virginia SATIR: „Conjoint Family Therapy“ und „Peoplemaking“ (deutsch als „Selbstwert und Kommunikation“ bekannt). Ich habe im Bereich Familientherapie nur Bücherwissen, keine praktischen Erfahrungen. Da flattert mir eine Ankündigung auf den Schreibtisch: Virginia SATIR kommt auf Einladung des Fritz Perls-Institut in die Schweiz, nach Wolhusen, um einen “Basiskurs in Familientherapie“ vom 6.10.1975 – 9.10.1975 abzuhalten; anschließend soll eine Weiterbildung in Familientherapie starten. Ich melde mich und meinen Ehemann sofort an und wir reisen gespannt nach Wolhusen. Virgina Satir kommt in den Kurs: groß, stattlich, imposant und sehr amerikanisch, dabei voller Ausstrahlung, für die ich keine Worte habe. Sie nimmt mich sofort in ihren Bann, mit ihrer Art zu reden, uns als Gruppenmitglieder zu ‚berühren’, über Menschen zu sprechen und zu uns als Menschen zu sprechen. Sie spricht in einer Weise, die mich enorm beeindruckt: mal liebevoll, mal streng, mal laut, mal leise, fast flüsternd, immer intensiv auf den jeweiligen Menschen gerichtet. Virginia zeigt uns, Familien darzustellen mithilfe von Skulpturen, um die wechsel-seitige Dynamik in Familien und deren Verflechtung, Verstrickung zu verdeutlichen und erfahrbar zu machen (obwohl ich einige Erfahrungsabende in Psychodrama hinter mir habe, berührt und bewegt mich diese darstellende Arbeit mit Familien-Skulpturen auf eine sehr elementare Weise); ich melde mich ständig für die verschiedenen Rollen und lerne „spielend“; Virginia Satir verwendet oft „Seile“, um die „Verstrickungen“ der Mitglieder konkret erfahrbar zu machen. Ich erinnere mich noch sehr genau: „ich bin als Mutter sehr verstrickt in ‚meiner Familie’ und in dieser Rolle glaube ich, es gibt keinen Ausweg; ich durchlebe als diese Mutter viele Gefühle und spüre körperliche Symptome, die ich sonst nicht kenne.“ Es grenzt vieles an Zauberei und Hexerei. Geschockt bin ich, dass ich, die ja immer alles zu können glaubt, nicht merke, dass meine Verstrickung, von der ich in der Rolle annehme, dass sie nicht aufzulösen ist, von Virginia mit einem kleinen Zug an der richtigen Stelle gelöst wird. Ich fühle mich blamiert, ich fühle mich klein und bescheiden, ich habe das große „Aha-Erlebnis“, dass kunstvolle Interventionen als ‚einfache’ Lösungen am wirksamsten sind.
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