Johannes Herwig-Lempp: Das erste Mal die Wunderfrage stellen
Wenn ich mir vornehme, etwas „das erste Mal“ zu machen, verlagert sich meine Aufmerksamkeit: die Gelassenheit verringert sich und wird durch Aufregung, aber auch Konzentration ersetzt. Die Tatsache, dass es das erste Mal ist, bekommt mehr Bedeutung als das, was tatsächlich passiert. Damit verbunden sind die Hoffnung, etwas ganz Besonderes und Neues zu erleben, und die Angst, etwas falsch zu machen oder zu verpassen und dadurch alles zu verderben. Darüber vergisst man zuweilen darauf zu achten, was eigentlich gelingt, und inwieweit man das, was man erleben oder erreichen will, auch bekommt. Systemisch gesehen ist die Unterscheidung „erstes Mal“ samt der Bedeutung, die man ihr gibt, ohnehin eine Konstruktion und bewusste Interpunktion, die auch anders erfolgen könnte: hat man sich nicht gedanklich schon längst vielmals damit befasst und vielleicht auch längst Teilerfahrungen (in Trainings, Übungen und Ersatzhandlungen) hinter sich? Wenn es mir gelänge, das erste Mal nicht als einen qualitativen Einschnitt, sondern als Bestandteil eines fortlaufenden Prozesses zu sehen (dem Vorerfahrungen und Übungen vorausgehen und dem viele weitere Male folgen werden), könnte ich vielleicht leichter gelassen bleiben. Andererseits ist die Besonderheit und Einmaligkeit des „ersten Mals“ ja auch eine Chance, daraus einen ganz besonderen Glücksmoment zu gestalten. … So war das vermeintlich „erste Mal“, dass ich die Wunderfrage angewandt habe, auch nicht wirklich das allererste Mal. Ich hatte im Februar 1993 einen interessanten und anregenden zweitägigen Workshop in Heidelberg bei Insoo Kim Berg besucht und dort nicht nur gesehen und erlebt, wie sie diese Frage (und die damit zusammen hängenden Folgefragen) anwendet, wir konnten dieses methodische Instrument auch selbst durch Üben in Kleingruppen ausprobieren. Ich war so begeistert davon, dass ich es kaum abwarten konnte, sie in meinem damaligen Arbeitskontext als Familienhelfer praktisch umzusetzen. Beim nächsten Elterngespräch in darauf folgenden Woche wollte ich sie sogleich einsetzen. Ich war zwar aufgeregt, aber auch mutig genug, um mich zu trauen. „Angenommen, heute Nacht, während Sie schlafen, geschieht ein Wunder – und das Verhältnis zu ihren zwei Söhnen ist plötzlich entspannt und gelöst, die Probleme sind verschwunden und Sie sind zufrieden. Da Sie schlafen, bekommen Sie das Wunder nicht mit. Woran würden Sie am nächsten Tag merken, dass dieses Wunder geschehen ist?“ Irgendwie schaffte ich es in der Aufregung dann nicht, die Frage genau so zu stellen, wie ich sie mir zuvor überlegt hatte, aber die Eltern verstanden sie trotzdem und antworteten sogar. Ich konnte noch zwei oder drei der Folgefragen stellen, die ja eigentlich diese Wunderfrage erst wirkungsvoll werden lassen. Aber nun wurde es noch holpriger – ganz anders, als ich es bei Insoo Kim Berg gesehen hatte! – und nach einigen Minuten verlor ich völlig den Faden. Ich war verwirrt und durcheinander und gab die Wunderfrage schließlich auf. In meiner Not konnte ich das Gespräch dann in eine andere Richtung lenken und irgendwie zu Ende bringen. Ich hatte es „überlebt“, war aber äußerst unzufrieden mit mir und außerdem verzweifelt, hatten sich doch meine Hoffnungen in die Besonderheit und Wirksamkeit der Frage damit offensichtlich als unzutreffend erwiesen. In der nächsten Supervision schilderte ich meine Frustration und war dabei ohne große Hoffnung, was sich nun noch ergeben könnte. Der Supervisor, dem die Wunderfrage selbst nicht bekannt war, hörte sich meine Schilderungen geduldig an – und löste, für mich völlig überraschend, mit einem schlichten Hinweis meine Enttäuschung sehr schnell auf : „Dann probieren Sie diese Frage halt einfach noch einmal aus.“ Allein bin ich damals nicht darauf gekommen. Wofür doch manchmal eine Supervision hilfreich sein kann – in diesem Fall für meine Erkenntnis, dass die großen Erwartungen, die ich in „das erste Mal“ habe, möglicherweise die Sicht darauf versperren, dass es danach auch noch ein zweites, drittes, „n-tes“ Mal geben kann. Und dass für das erste Mal vielleicht einfach der Mut zum Ausprobieren das Wichtigste ist, also die Lust am (oder trotz) Risiko.
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