Gerda Mehta: "Österreich ist frei"
Bundeskanzler
Fiegl rief vom Balkon des Schlosses Belvedere in Wien am 1. Mai 1955:
„Österreich ist frei!“. Dieses Ereignis markierte eine Aufbruchstimmung
in Österreich. Ich bin 3 Monate davor geboren. Und irgendwie ist das
auch ein Lebensmotto von mir geblieben, auch wenn ich damals als Baby
wohl nur die gute Stimmung der Bevölkerung und Freundlichkeit auf mich
wirken ließ und sonst wohl nichts mitbekam. Stimmung und Freundlichkeit
bewegen eine Nation, eine Familie, ein Paar, einen Klienten. Gute
Stimmung nährt Hoffnung und kann Berge versetzen! Davon bin ich noch
immer überzeugt.
Neugierde und Interesse an Fremden und Fremdem war meiner Mutter und
somit auch uns Kindern vertraut. Als normal und selbstverständlich fand
ich das Zugehen auf neue Situationen, Menschen, Länder. Später dachte
ich, mir ist wohl das Fremde vertrauter als das anscheinend Vertraute,
weil ich vieles von Menschen um mich herum doch nicht verstand und noch
immer nicht verstehe und oft denke, dass ich doch nicht wirklich
dazupasse.
Ich glaube, diese meine doch etwas ungewöhnliche Sozialisation in
unserer Familie half mir bei vielen ersten Malen. Sie half mir
allerdings nicht in den Reihen der BerufskollegInnen: Als ich auf einer
Kinder- und Jugendlichenbeobachtungsstation landete, wo Hildegard
Hetzer und Charlotte Bühler Jahrzehnte vorher ihre Entwicklungstests
für kleine Kinder durchführte, hatte ich zwar ein abgeschlossenes
Psychologiestudium, viele Psychotherapieworkshops aus verschiedenen
Richtungen, ein Psychiatriepraktikum, Erfahrungen mit Kindern in Heimen
hinter mir und eine große Offenheit viel zu erfahren vor mir. Aber wie
konnte ich Eltern beraten, was gut bzw. besser für ihre Kinder wäre als
das, was sie bisher taten???? Niemand gab mir Anleitung. Vielmehr mußte
ich ein Expertenteam überzeugen, dass ich einen Behandlungsplan, eine
Lösung wüsste, die ich am Ende einer 6-wöchigen Beobachtungszeit
(stationärer Aufenthalt des Kindes) vorzuschlagen hatte. Diese Runde
bestimmte dann, was zu geschehen hatte. Der Chef sagte mir mehrmals
nach Auflösung der Runde, was ich alles falsch gemacht hatte, was ich
alles sagen hätte sollen und was ich nicht sagen hätte sollen. Und ich
fühlte mich oftmals sehr elend! Meine Freiheitsidee, Offenheit und
Neugierde stieß nicht auf Gegeninteresse und Freundlichkeit, sondern
auf einen Staatsapparat, der Kraft des Jugendwohlfahrtsgesetzes wirken
konnte und mußte. Unter den neuen KollegInnen gab es allerdings
Solidarität und gegenseitige Hilfe; teilweise. Eine inhaltliche mir
sehr wichtig erscheinende Frage an meinem Chef brachte mir die Antwort
ein: nehmen Sie Supervision! Ich hatte lange nicht verstanden, was er
mir beibringen versuchte.
Es brauchte über 10 Jahre, bis ich halbwegs mit meiner Arbeit
zurechtkam. Es brauchte weitere 10 Jahre, bis ich verstanden hatte,
dass das (Mit)gestalten (auch in meinem Sinn) an dieser Institution
eine leere Hülse ist. Die restlichen 10 Jahre werde ich dort das machen
können, was ich glaube, dass gut ist, ohne auf Zustimmung angewiesen zu
sein und jemanden überzeugen zu wollen oder das System in die Richtung
meiner Überzeugungen zu lenken! (Endlich habe ich verstanden, was
meiner Berufsrolle entspricht?!?)
Ich machte eine Psychotherapieausbildung nach der anderen außerhalb der
Arbeitsstelle, um mir Knowhow für diese meine Arbeit zu erwerben. Meine
Einschulung durch den Arbeitgeber bestand nämlich darin, in möglichst
kurzer Zeit verschiedene Arbeitsgebiete zu durchlaufen (ich erfuhr 25
Jahre später, dass dies das Konzept der Einschulung war!). Die Dynamik
in den Teams können Sie sich vorstellen! Wichtig war vor allem, dass
man/frau als Psychologe/in Autorität war und sie auch hatte.
Als ich dann allerdings in einem Jugendamt landete (es war einst das 1.
Jugendamt in Wien, wo Rosa Dworschak, Schülerin von August Aichhorn, zu
arbeiten begann, die 1949 die Child- Guidance-Kliniken in Wien mit
begründete), sah ich die Familien in einem Raum, den ich mit der
leitenden Sozialarbeiterin des Amtes, Frau Kaufmann, teilte. Meine
Aufgabe war Gutachten zu verfassen und den Leuten sagen, was sie tun
sollen, wie sie mit ihren Kindern besser zurechtkommen können, sie aus
Krisen herausführen, entdecken, ob sie ihre Kinder mißhandeln oder
verwahrlosen lassen, intervenieren, wenn sie ihre Kinder los werden
wollten, Entscheidungen über das Arrangement von Kindern und deren
Elternteilen treffen, und vieles mehr. Ich war eine unerfahrene
interessierte, nichtwissende Psychologin, eine Frau Doktor ohne
Erfahrung und Wissen davon, was die vielen möglichen Schattierungen der
Lebensweisen und Lebensbedingungen anderer betraf und was man/frau dazu
beitragen könnte, dass sich diese zum Besseren wenden können.
Der Amtsleiter hatte mich vor allen SozialarbeiterInnen, mit denen ich
eng zusammenarbeiten sollte, mit den Worten begrüßt: „Sie werden es
aber schwer haben, nachdem Sie schon die Dritte in diesem Jahr hier bei
uns sind!“ Das verstand ich und die SozialarbeiterInnen schämten sich
ein wenig, dass er so direkt und ehrlich war. Ich wiederum schätzte
seine Direktheit. Die SozialarbeiterInnen nahmen mich in Schutz. Ein
wunderbarer Kommunikationssalat hatte uns in wenigen Minuten eine gute
Kooperation beginnen lassen, die getragen war von einem Vorschuß an
Wohlwollen und langsam wachsender, gegenseitiger Wertschätzung.
Meine Frau Kaufmann hatte mich jedes Mal mit einer Topfenkolatsche (mit
Quark gefüllter Blätterteig, TL) an meinem Schreibtisch begrüßt.
Nachdem die KlientInnen unser Büro verlassen hatten, oder die
KollegInnen nach einer Fallbesprechung, die sie mit mir laut Vorschrift
machen mußten, wieder gegangen waren, hatte sie stets ein paar nette
Worte für mich bereit: „Das war so ein wichtiges Gespräch!“ „Sie haben
dieser Familie viel mitgegeben.“ „Als Sie mit der Mutter gesprochen
haben, hat man richtig gemerkt, wie die Mutter wieder Hoffnung bekommen
hat und ihr Kind nun wieder lieben kann.“ „Sie haben so berührend
zugehört, das hat dem Mann aber gut getan.“ „Dieses Gespräch wird das
Elternpaar nie vergessen!“ Diese Rückmeldungen meiner Frau Kaufmann
schmeichelten mir. Diese feinfühlige erfahrene Frau fand für mich die
richtigen Worte, die mir gut taten und ich genoß sie, auch wenn ich
wußte, wie stümperhaft ich die KlientInnen verstand, sie ja gar nicht
beraten konnte, sondern mir ad hoc irgendwelche Erfindungen einfielen.
Denn meine Hilflosigkeit machte mich erfinderisch. Nie ergänzte sie mit
ihrem Wissen, nie korrigierte sie oder nahm die Geschichte in ihre
Hand! Zumindest habe ich es so in Erinnerung!
Meine Katathymes Bildern-Ausbildung mochte ich sehr, konnte sie jedoch
nie umsetzen oder anwenden. Damit gab es eigentlich kein richtiges 1.
Mal. Nach einem Workshop über Familientherapie mit Maria Bosch (von
Weinheim) und Alois Saurugg (von Linz) in Bad Gastein sah ich das 1.
Mal eine „richtige“ Familie. Denn ich hatte gerade gelernt, wie man sie
alle gemeinsam interviewt. Die Familie wollte nur ein paar nette Worte,
um ihre Hoffnung zu nähren, dass ihr Sohn wieder zu lernen beginnt.
Aber ich hatte wohl versucht Generationengrenzen zu zementieren, die
ältere Schwester und der Bruder brauchten den richtigen Platz und wer
weiß, was ich sonst noch alles verbrochen hatte. Viele Monate später
verriet mir die zuständige Sozialarbeiterin, dass die Familie ihr
später rückmeldete, sie gehe wohl nie wieder zu Psychotherapeuten, auch
nicht der Sozialarbeiterin zuliebe!?!
Es war in den Anfangsjahren meiner Berufstätigkeit üblich, die
Familienmitglieder einzeln vorzuführen, während die anderen
Familienmitglieder auf der Bank brav vor der Tür saßen und warteten.
Ich kann mich gar nicht erinnern, ob die Kinder draußen jemals schlimm
wurden! Ein Bild vom Kind in ein Gutachten zu gießen war meine Aufgabe.
Dazu interviewten wir jeden einzeln! Ich bemühte mich am Ende, auch der
Familie mein Bild zu vermitteln. Dies war aber Luxus, wie ich erfuhr.
Denn es war nicht üblich, ihnen dieses Bild auch noch direkt zu
übermitteln! Und vielleicht waren für viele die Eltern auch implizit
„Feinde“?
Ich bin sicher: die Familie machte sich ein Bild von uns da drinnen!
Erst später lernte ich bei den Fallverlaufkonferenzen, in denen ich zu
den Leuten drinnen gehörte, aber nicht mehr in leitender Funktion, aufs
Klo zu gehen, so dass ich mich auf den Weg zu den Leuten draußen
dazusetzen und sie vorbereiten und manchmal auch beruhigen konnte,
indem ich erzählte, welche Themen drinnen gerade diskutiert wurden.
Im Frühling 2006 hatte Jürgen Hargens bei mir zuhause aus seinem Roman
„Motorrad“ gelesen. Psychotherapiestudenten/innen, Freunde/innen und
meine Frau Kaufmann waren auch gekommen. Ich hatte meine Frau Kaufmann
voller Stolz als meine eigentliche Einschulerin vorstellen können und
von ihren unentwegten Ermutigungen erzählt. Sie hatte so fest an mich
geglaubt. Sie gab mir Zuversicht. Und irgendwann glaubte ich, was sie
sagte. Ich wurde sogar Lehrtherapeutin. Eine anwesende Studentin meinte
ein paar Tage später in einer Lehrveranstaltung, in der wir unsere
gemeinsame Klienten/innenarbeit reflektierten: Auch wir wollen in 20
Jahren von unserer Frau Kaufmann erzählen können! Das war ein
wunderbares Kompliment, das mich sehr berührte.
An der Sigmund-Freud-Universität und in der dazugehörenden Ambulanz
arbeiten wir von Beginn an miteinander. Die Studenten/innen können mich
beim 1. Mal und auch danach so lange dabeisitzen haben, wie sie es
brauchen, bis sie genug Sicherheit haben, auch allein (gut)
zurechtzukommen. Wir versuchen miteinander die Therapien zu meistern-
Klienten/innen, Studenten/innen und Lehrer/innen: mit all der
Offenheit, Einfühlsamkeit, Ideen, Methoden, Theorien, Reflexionen,
Bemühungen und Hoffnungen. Wir müssen nicht wissen, aber wir bemühen
uns alle. Wir glauben an Wunder und an den Effekt, der Offenheit,
Interesse, Bemühen und Bereitschaft, sich gemeinsam auf die Suche nach
Auswegen aus schwierigen Lebenslagen zu begeben, mit sich bringen. Denn
das hatte ich später auch noch bei Harald Goolishian, Harlene Anderson,
Victor Loos, Jay Solomon, Eugene und Margit Epstein, Niel Ravella,
Lyle White und Susan Levin (kennen)gelernt. Wir bemühen uns, so gut es
geht. Wie es geht - das müssen wir immer wieder neu miteinander
(er)finden und neu suchen. Ich hatte Harry Goolishian über Wochen
hindurch gelöchert, von Begriff des Nicht-Wissens doch herunter zu
steigen, was er natürlich nicht tat. Ich denke, er schmunzelte jedes
Mal insgeheim. Inzwischen hatte ich diese Blindheit auch loslassen
können.
Heute weiß ich „es“ noch immer nicht, aber inzwischen sehe ich diese
meine doch inzwischen etwas besser informierte Offenheit als die
größte Ressource, die ich zu bieten habe. Neulich sagte eine Studentin
zu mir, ich hatte vor 2 Jahren gesagt, wenn man „es“ wirklich weiß, sei
das das Schrecklichste für Menschen, mit denen wir zu tun haben. Wir
hören dann nämlich den anderen nicht mehr zu! Inzwischen stimmt sie mir
zu. Eine andere Studentin springt gern ins kalte Wasser und will dann
die Hilfe, die sie braucht. Wirklich herausfordernd sind die
„Aussichten“, wo trotz vieler Ausbildungen kein Arbeitsplatz in Sicht
ist. Psychotherapie ein wirtschaftliches Gut, das es zu verkaufen und
anzupreisen gilt. Es warten neue Herausforderungen, damit das erste Mal
und die vielen folgenden Male in Gang kommen! Dazu wünsche ich der
neuen Generation viel Glück und Mut beim Ausprobieren.
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