Wolfgang Loth: Qualitäters Heimsuchung
Meine erste Arbeitsstelle war die eines Heimpsychologen. Das Heim: eine (fast) geschlossene Anstalt für Mädchen, geleitet und überwiegend betreut von den Schwestern eines Nonnenordens, und seit kurzem eher nolens als volens mit „modernen“ Funktionen ausgestattet. Eine davon: der Heimpsychologe, in diesem Fall ich, gemeinsam mit dem Hausmeister der einzige Mann auf dem Gelände. Das war an sich kein Problem. Vielleicht war es auch eine Ressource, immerhin ergänzte ich die Genderperspektive. Davon wusste ich aber noch nichts. Ich wusste statttdessen, frisch von der Uni, dass es sinnvoll sei, die Arbeit zu evaluieren und Qualität zu überprüfen. Es gab zwei Themen, ein grundsätzliches und ein spezielles, die sich zum Evaluieren anboten. Das Spezielle: Entweichen tatsächlich mehr Mädchen bei Vollmond als während anderer Mondphasen? Das hieß wirklich „entweichen“ und die Vollmondthese wurde mit Nachdruck vertreten. Ich glaubte, es diene der Qualität des Heimes, mit solchen Vorurteilen aufzuräumen. Auch die grundsätzlichere Frage diente, ich war überzeugt, der Qualität: Hatte die bisherige Arbeit des Heimes genutzt? Zur Information: das fand im Herbst 1978 statt und Qualitätssicherung war noch kein Knüppel aus dem Sack der Outputcontrol(le), sondern ein Thema, das mich interessierte. Baseline, Material für die Rhythm Section, sozusagen, um den Beat wieder frisch zu machen. Arme Schwestern, ich vermute, sie kamen in Nöte. Die Mondphasenfrage war schnell abgehakt. Es reichte das Studium der Entweichaufzeichnungen der letzten zwei Jahre, kombiniert mit den Angaben des Mondkalenders. Der Zusammenhang war keiner und es war egal. Ich hätte lernen können: was einen orientiert ist hilfreich und gut, es sei denn die Alternative ist attraktiver. Das war sie aber nicht: Erstens hatte keine der Betreuerinnen gerne unrecht und zweitens passte das Erklärungsprinzip auch den Mädchen gut ins Konzept. Der Mond war schuld. Ja, gut. Zur Nutzenfrage brauchte es die Einschätzungen der Jugendämter, die das Heim belegten und dafür zahlten. Ich wollte mit deren Hilfe etwas über die weitere Entwicklung derjenigen Mädchen erfahren, die in einem Zeitraum von zwei Jahren entlassen worden waren und deren Entlassung mindestens zwei Jahre zurücklag. Da kam schon eine brauchbare Zahl zusammen. Zwischenzeitlich übte ich mich darin, meine Vorstellungen von konstruktiver Kommunikation zu watzlavieren. Das schien brauchbar. Auch wenn ich zunehmend daran dachte, dass die unmoderne Dauerverfügbarkeit der Nonnen einen größeren und womöglich nachhaltigeren Eindruck auf die Mädchen machte als meine gesprächsweisen Ausblicke auf die Nichtheimwelt. Zwischenzeitlich erhielt ich einen Auftrag, der mir wie ein Himmelfahrtskommando vorkam. Der Auftrag: eine Gruppe von Mädchen in die Stadt zu bringen, sie dort kontrolliert zum Freigang zu entlassen und anschließend alle wieder ins Heim zurückzubringen. Ich wusste nicht, wie das gehen sollte, wusste stattdessen aus den Gesprächen mit den Mädchen, was sie alles dafür täten, aus diesem geschlossenen Ding herauszukommen. Ich hielt das damals für einen Auftrag. Vielleicht vertrete ich deswegen jetzt so nachhaltig die Position, dass von einem Auftrag erst dann gesprochen werden könne, wenn beide, bzw. alle Seiten ihm zugestimmt haben… Das war kein Auftrag, das war eine Anordnung. Ich hatte den Ehrgeiz, alle wieder ins Heim zurückzubringen. Ich wusste nicht, wie das gehen sollte. Auch jetzt wüsste ich es nicht. Allerdings weiß ich, dass ich alle wieder traf, einvernehmlich, zahm und gerührt, vor dem Schaufenster eines Ladens für Brautmode. Da lernte ich den Nutzen vertrauter Symbole kennen, auch wenn ich mir diese selbst nicht ausgesucht hätte. Und die Evaluation der Qualität? Erstaunlich viele der angefragten Jugendämter reagierten, gaben teilweise detaillierte Informationen. Das Ergebnis war dann etwas ernüchternd. Zwar sprach einiges dafür, dass die Bemühungen des Heims nicht ganz umsonst waren, doch irgendwie hatten sie die meisten der antwortenden Jugendämter etwas mehr davon versprochen. Gute Grundlage also dafür, Konzepte zu entwickeln, genauer hinzuschauen, neue Wege zu gehen. Letzteres ging dann schneller als erwartet, jedenfalls für mich. Vermutlich war es nicht das Ergebnis der Befragung, sondern meine mangelnde Überprüfung des Auftragswillens der Leitung, die schließlich dazu führte, dass ich bei der ersten sich bietenden Gelegenheit freigesetzt wurde, der Orden hatte nachgerechnet. Das Heim war zu teuer. Ich glaube, der Hausmeister blieb ein wenig länger.
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