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systemagazin special: "Das erste Mal"
Wilhelm Rotthaus: Aufbruch zur Systemischen Therapie als Leitkonzept der Viersener Kinder- und Jugendpsychiatrie

Im zweiten Band seiner Erinnerungen schreibt Professor Bosch (1998: 451): "Die letzten Jahre vor meiner Pensionierung 1980 waren gekennzeichnet durch eine stürmische Entwicklung und Anwendung neuer Therapieverfahren, der Verhaltenstherapie, Gesprächstherapie, theoretisch unterschiedlich begründeter Spieltherapien und der systemischen Einbeziehung der Familie in die Behandlung. Solche Entwicklungsphasen sind auch solche der Labilisierung. Plötzlich gilt nur noch das Neue, alle sind in Ausbildung und voller Drang, das Erlernte anzuwenden, oft allzu forsch und ohne ausreichende Erfahrung auch hinsichtlich der Nebenwirkungen. … Ich hatte großen Respekt vor dem, was psychotherapeutische Maßnahmen beim Patienten bewirken, und geriet in dieser Zeit gegen meine Grundeinstellung in die Haltung des Mahners und Bremsers. … Insgesamt brachte aber diese Entwicklung entscheidende neue Impulse, und meine Nachfolger haben mit der Begründung der alle zwei Jahre stattfindenden ‚Viersener Therapietage’ ein wichtiges Forum geschaffen, um den kritischen Austausch von Erfahrungen und eine ständige Fortbildung in Gang zu halten."
Ja, es war tatsächlich eine stürmische, spannende, faszinierende Zeit! Wenn ich davon berichte, erzähle ich meine Geschichte. Menschen - eine Plattitüde inzwischen? - speichern nicht Fakten in ihrem Gedächtnis, sondern erinnern Geschichten, die sie im Lauf der Zeit ständig verändern. So dürften meine Geschichten in vielen Punkten nicht deckungsgleich sein mit denen meiner damaligen Kolleginnen und Kollegen. Aber wer kennt schon die „wahre“ Geschichte?
Ich begann im Oktober 1975 als - aufgrund meiner Vorgeschichte schon nicht mehr ganz junger - Assistenzarzt in der Kinder und Jugendpsychiatrie Viersen. Damals stand ich kurz vor dem Abschluss meiner Weiterbildung in klientenzentrierter Gesprächstherapie. Ich hatte von einer verhaltenstherapeutischen Arbeitsgruppe in der Klinik gehört und war begierig, daran teilzunehmen. Doch man gab mir zu verstehen, sie tage nur sporadisch und Ärztinnen und Ärzte seien sowieso nicht zugelassen.
In den ersten Monaten konzentrierte ich mich ganz darauf, mich in das neue Aufgabengebiet einzuarbeiten. Ich war ganz auf "meine" Station und die Zusammenarbeit mit dem dort schon längere Zeit tätigen Psychologen Karl Heinz Pleyer und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Pflegedienstes (der Begriff Pflege- und Erziehungsdienst kam erst mit der Psych-PV) orientiert. Umso überraschter war ich, als ich nach einigen Monaten feststellte, dass inzwischen fast alle Psychologinnen und Psychologen, Ärztinnen und Ärzte irgendwo in der Weiterbildung in klientenzentrierter Gesprächstherapie waren.
Und damit begann das große Sich-Weiterbilden. Damals war gerade die Gestalttherapie besonderes "in". Und so wurden überall im Lande Gestalttherapieseminare aufgesucht oder sogar Gestalttherapieweiterbildungen begonnen. Zumeist musste man dann im Zulassungsseminar auf dem "heißen Stuhl", noch häufiger auf der "heißen Matte" seine Wut über seine schreckliche Kindheit herausschreien, um der Aufnahme in die Weiterbildung für würdig befunden zu werden. Gelang das nicht, wurde man zunächst in eine Einzeltherapie geschickt. Aber auch andere Therapieformen versuchten wir kennen zu lernen: die damals gerade aktuelle Urschrei-Therapie, unterschiedliche Formen von Körpertherapie und vieles andere mehr.
Schon bald einigte sich eine größere Gruppe (Psychologinnen, Ärztinnen und auch Mitarbeiterinnen des Pflegedienstes) darauf, klientenzentrierte Spieltherapie lernen zu wollen. Wir gewannen dafür Stefan Kaatz (heute Professor für klinische Psychologie in Münster), der dann alle 14 Tage zu uns kam. Wie richteten ein Spieltherapiezimmer mit Videoanlage ein und versammelten uns dann - selbstverständlich nicht auf Stühlen, sondern auf Kissen auf dem Boden sitzend - um das Fernsehgerät, um unserer Therapieversuche zu beurteilen und immer wieder neue Ideen und Anregungen zu bekommen.
Ich erinnere mich noch gut an den Behandlungsversuch eines Jungen, der mehrere Brandstiftungen begangen hatte, durch einen Kollegen aus unserer Gruppe. Ich kann eines Tages auf den Flur der ersten Etage des Hochhauses, wo sowohl das Spieltherapiezimmer als auch die Diensträume von Professor Bosch lagen. Der Geruch verbrannten Papiers durchdrang die Räume, und Professor Bosch stürzte auf seinem Zimmer, um den Brand zu löschen. Fassungslos stellte er fest, dass der Kollege im Rahmen der Spieltherapie mit dem " pyromanischen" Jungen auf einem Teller im Spieltherapiezimmer ein kleines Feuer gemacht hatte.
Einige Zeit später berichtete dann auf einmal Marlies Carls, die Mitarbeiterinnen der Kölner Erziehungsberatungsstellen ließen sich durch holländische Trainer in Familientherapie weiterbilden. Selbstverständlich mussten wir das auch kennen lernen. Und so luden wir Jos van Dyk und Frans Boeckhorst zu zwei Seminaren ein. Ich erinnere mich noch gut, wie beeindruckt wir von der Art und Weise waren, wie die beiden in den vielen Rollenspielen die Eltern und die weiteren Familienangehörigen in die Arbeit einbezogen. Wir haben das in den nachfolgenden Wochen viel diskutiert und gewannen den Eindruck, Familientherapie könne uns die Lösung unseres Problems bringen: dass wir nämlich im Verlauf unserer stationären Therapie mit den Kindern durchaus Erfolge hatten, die Eltern aber bei Nachbefragungen berichteten, anfangs sei es ja gut gegangen, aber inzwischen, einige Monate nach der Entlassung, sei das Problem fast genauso schlimm wie vorher oder gar noch schlimmer.
Und so entschieden wir uns, Familientherapie zu lernen. Es entstanden zwei, zwischenzeitlich auch drei, Weiterbildungsgruppen, die über Jahre ganz regelmäßig mit den holländischen Trainern gearbeitet haben, eine "stationäre" Gruppe mit Joos van Dyk und eine "ambulante" Gruppe mit Frans Boeckhorst.
Ich arbeitete auf einer Kinderstation und fand es besonders spannend, das, was wir über ambulantes familientherapeutisches Arbeiten erfuhren - denn nur darin hatten unsere Trainer Erfahrung - auf die stationären Bedingungen zu übertragen. Es war damals vor allem Karl Heinz Pleyer, der mit der ihm eigenen Rigorosität darauf drang, die Eltern in der Verantwortung für ihre Kinder zu belassen.
Natürlich schwärmten wir an den Wochenenden weiterhin zu Seminaren aus, jetzt zu familientherapeutischen Seminaren. Damals war gerade das Buch von Mara-Selvini Pallazoli und Kollegen „Paradoxon und Gegenparadoxon“  in aller Munde, und so versuchten wir uns auch in paradoxen Interventionen. Beispielsweise forderten wir einen „Wegläufer“ zum Weglaufen auf und wunderten uns, dass er das tatsächlich tat. In der Regel aber wurden wir Ärztinnen und Psychologinnen von den Betreuerinnen und Betreuern auf der Station auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt, wenn wir montags noch den Wolken schwebend über unsere Seminarerfahrungen berichteten. Ihnen gelang es nicht selten besser als uns, die neuen Ideen auch auf der Station in neues Handeln umzusetzen.
Damals wurden auch die "Paten" erfunden. Den Begriff der Bezugsbetreuer gab es damals noch nicht, zumindest war er uns unbekannt. Die Notwendigkeit aber, einzelne Betreuerinnen und Betreuer dem Kind und seinen Angehörigen gleichermaßen fest zuzuordnen, wurde uns bald deutlich. Auf der Suche nach einem Namen für diese Funktionen entstand der Begriff des "Paten" beziehungsweise der "Patin".
Recht abenteuerlich waren unsere damaligen Versuche mit Teamsupervision. Wir merkten, dass die Beziehungen im Team für den reibungslosen Ablauf der Arbeit von großer Bedeutung waren, fanden aber niemanden, der Erfahrung mit Teamsupervision hatte; an eine Finanzierung durch die Klinik für ein derartig sonderbares Unterfangen war nicht zu denken. Teamgespräche fanden dann zunächst ohne Supervisor statt, selbstverständlich im Kreis mit Kissen auf dem Boden sitzend. Wir hatten keine Ahnung, dass es Unterschiede geben könne zwischen Selbsterfahrungsgruppen und Teamgesprächen in einem Arbeitskontext. So genannte encounter-Gruppen waren damals weit verbreitet, und so erhoben wir ganz selbstverständlich die Forderung, jeder müsse in dieser Runde sein Innerstes offenbaren. Zwar gewannen wir noch einen Pfarrer, der sich als Supervisor anbot. Aber auch der hinderte uns nicht an vielen wechselseitigen Verletzungen, die beispielsweise in Ausstoßungsprozessen geschahen. In späteren Jahren haben einige, die damals an diesen Sitzungen beteiligt waren, sich lange gewehrt, als Teamsupervision auf allen Stationen eingeführt werden sollte.
1981 fuhren mehrere von uns aus allen Berufsgruppen – auch die damalige „Chefin“ Helga Färber war dabei - zu der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Kinder und Jugendpsychiatrie nach München. Wir hörten viele Vorträge – Workshops waren dort noch unbekannt - über die Klassifizierung von Krankheiten, über Hauptdiagnosen und Nebendiagnosen, und schauten uns nach einigen Tagen ratlos und verblüfft an: Das war nicht unsere Kinder- und Jugendpsychiatrie, über die da geredet wurde. Auch Wochen später beschäftigte uns das in München Erlebte noch sehr, bis schließlich die Idee immer konkretere Form annahm, einen Kongress durchzuführen, in dem wir "unsere" Kinder und Jugendpsychiatrie und unsere Vorstellungen über Austausch und Lernen zur Diskussion stellen wollten. Das war die Geburtsstunde der Viersener Therapietage, die dann 1982 erstmalig durchgeführt wurden.
In der weiteren Entwicklung haben wir - so glaube ich - die Bewegung von der Familientherapie zur Systemtherapie recht gut mit vollzogen, das Bewährte bewahrt und das Neue integriert. Die Gegensätze zu gewissen Strömungen vor allem in der universitären Kinder und Jugendpsychiatrie sind inzwischen geringer geworden, die Konzepte haben sich trotz aller weiter bestehenden Unterschiede angeglichen. Von der Viersener Kinder- und Jugendpsychiatrie sind viele Impulse ausgegangen; das Viersener Therapiekonzept haben zahlreiche Kolleginnen und Kollegen in ihren Einrichtungen – und nicht nur in den 10 Prozent der Kliniken, die von ehemaligen „Viersenern“ geleitet wurden - in unterschiedlichem Maße und Umfang aufgriffen, so wie wir in Viersen von anderen gelernt haben.




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