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systemagazin special: "Das erste Mal"
Arist von Schlippe: Verwechslung von Anlass, Anliegen, Auftrag und Kontrakt. Mein erster Tag als Psychologe in der Kinderpsychiatrie

Im Leben gibt es viele „erste Male“, doch an mein erstes professionelles Erlebnis erinnere ich mich noch sehr gut. Es war am 2.1.1977 als ich meine erste Stelle antrat, in einer Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinik in Norddeutschland. Ich wurde begrüßt, vorgestellt und man zeigte mir mein Zimmer. Auf meinem Schreibtisch lag ein Formular über die Aufnahme eines 12-jährigen Jungen, ich weiß bis heute, wie er heißt. Auf dem Zettel stand die Diagnose „Enkopresis“ und darunter der Vermerk, dass die Krankenkasse eine Kostenübernahme für 14 Tage stationären Aufenthalt in der Klinik zugesagt habe. Es überlief mich heiß: ich wusste so gerade eben, was das Wort bedeutete. In meinem ganzen Studium war mir dieses Störungsbild nie begegnet, ich hatte – als im Studium voll ausgebildeter Gesprächspsychotherapeut zwar schon mehr Ausbildung als manche meiner Mitabsolventen. Aber wie sollte ich es anstellen, ich musste ja nun „machen“, dass das Kind innerhalb von 2 Wochen nicht mehr in die Hose machte! Ich fühlte mich völlig überfordert, dachte daran, wegen erwiesener Unfähigkeit nun gleich meine Kündigung einzureichen, hier war ich jedenfalls fehl am Platze!
Zum Glück ging die Geschichte gut aus. Der gesprächspsychotherapeutische Zugang half mir, aus der Problemtrance zumindest ein wenig herauszukommen, die Krankenkasse bewilligte mehrere Verlängerungen seines Aufenthaltes, ich lernte nach und nach die ganze Familie kennen und ich lernte, sie mehr und mehr zu schätzen, je mehr ich die ungeheuren Spannungen verstand, die diese ostfriesische Bauernfamilie, in der vier Generationen auf engem Raum unter einem Dach lebten, zu meistern hatte. In den ersten Familiengesprächen, die ich dann, noch ohne jedes systemische Rüstzeug, führte, ging es sehr schnell um viele andere „Scheiße“, und nur noch am Rande um die Symptomatik des Jungen. Ich bin froh, dass ich nicht aufgegeben, sondern die Lektion gelernt habe: verwechsle nicht Anlass, Anliegen, Auftrag und Kontrakt.
Bis heute kenne ich bei Beginn von Beratungen den Sog, aus einem geschilderten Anlass mir sofort und ungefragt einen Auftrag selbst zu basteln und mich in diesem dann auch gleich so zu erleben, als wäre der Auftrag auch schon gleich der Kontrakt. In zahllosen Supervisionen habe ich mitbekommen, dass es sich hier offenbar um ein weit verbreitetes Phänomen in helfenden Berufen handelt, ein wenig wie in dem bekannten Witz:
Der kleine Pfadfinder kommt zu spät zum Gruppenabend. Der Leiter stellt ihn zur Rede. Der Junge: „Aber ich musste doch noch meine gute Tat tun!“ – „Ah, das ist was anderes, was hast du denn getan?“ – „Ich habe einer alten Oma über die Straße geholfen.“ – „Aber das dauert doch keine 20 Minuten!“ – „Nun ja, die Oma wollte nicht!“
In der Auftragsklärung ist es sinnvoll, zwischen Anlass, Anliegen, Auftrag und Kontrakt zu unterscheiden (Loth 1998, v.Schlippe 2003). Nicht jeder Anlass ist gleich Grund für einen Auftrag. In unserem Beispielfall könnte man die Differenzierung idealtypisch etwa so skizzieren: als Anlass mag das Einkoten des Sohnes benannt werden. Doch vielleicht ist das Symptom selbst für die Mutter gar nicht so problematisch und es ist eher ihr Anliegen, dass das Kind die schmutzige Wäsche allein in die Waschmaschine steckt. Ist es dann ihre Idee, dass der Berater/die Beraterin das Kind dazu bringt? Nein, vielmehr kann die Frage danach, was die Beraterin denn hier tun könne, dazu führen, dass die Mutter sich von ihr wünscht, dass sie sich mit ihrem Mann auf eine klare gemeinsame pädagogische Linie dem Sohn gegenüber einigen könne, weil zwischen ihr und dem Mann die Ideen über den Umgang mit dem Sohn weit auseinander klafften und sie unter dem Streit mehr leide als unter dem Symptom.  „Könnten Sie nicht dazu beitragen, dass mein Mann etwas weniger streng mit dem Sohn umgeht?“ Das wäre dann ihr Auftrag. Und die Beraterin könnte an dieser Stelle anbieten:  „Damit fühle ich mich nicht so wohl, ich stelle mir vor, dass es für Ihren Mann eher ärgerlich wäre, wenn nun zwei Frauen dazu bringen wollen, dass er sich ändert. Was halten Sie davon, dass ich Ihnen die Möglichkeit anbiete, dass Sie beide sich gemeinsam darüber unterhalten, was ihre Vorstellungen von Erziehung sind, wie Sie beide sich eigentlich einigen und wie Sie gemeinsam in der Familie leben möchten – und vielleicht wäre es gerade bei der letzten Frage gut, auch zu erfahren, was der Sohn darüber denkt?“ – so könnte man (idealtypischerweise) statt bei der Symptomatik am Schluss bei einem paar- oder familientherapeutischen Kontrakt ankommen.
Die folgende Aufstellung hat sich in meiner Erfahrung als ein gutes Instrument der Gestaltung besonders von systemischen Erstgesprächen – aber auch darüber hinaus - bewährt. Sie hilft, Klarheit in der „logischen Buchführung“ zu gewinnen: habe ich schon verstanden, was der eigentliche Anlass ist, der die Familie herführt? Weiß ich, was die Anliegen eines jeden sind? Weiß ich, was er oder sie denkt, was mein Beitrag dabei sein sollte? Kann ich und will ich diese Aufgabe übernehmen oder mache ich ein Gegenangebot? (Quelle: Unterrichtsmaterialien des Instituts für Familientherapie Weinheim, Ausbildung und Entwicklung e.V.)

Vom Anlass über das Anliegen zum Contracting. Ein Leitfaden für das systemische Erstgespräch

1.    Anlass: „Was führt Sie her?“
  • Was führt Sie her, gab es einen Auslöser, einen aktuellen Anlass?
  • Warum wünschen Sie gerade jetzt Beratung?
2. Anliegen: „Was möchten Sie hier?“
  • Was soll heute hier geschehen? (von jedem)
  • Was soll am Ende der Sitzung/der Beratung/der Supervision geschehen sein, dass Sie sagen können (oder: dass jeder sagen kann): es hat sich gelohnt?
  • Problemdefinition und Anliegen von jedem erfragen, auch Nicht-Anwesende (vor allem Überweisende) sollten zirkulär miteinbezogen werden. Mögliche Fragen:
  • Problemerklärung: Was vermuten Sie, woran es liegt?
  • Katastrophenphantasien: Was ist Ihre schlimmste Befürchtung?
  • Umgekehrt: Wie erklären Sie es sich, dass es nicht schlimmer ist?
  • Lösungsversuche: Was haben Sie bisher versucht? Gab es Ausnahmen?
  • Lösungsideen: Was sollte passieren?
3.    Auftrag: „Was wollen Sie von mir?“
  • Was genau wollen Sie dabei von mir?
  • Womit würde ich Sie enttäuschen?
  • Wer sonst aus dem Problemsystem (anwesend oder nicht anwesend) möchte etwas von mir - und was genau? Möchten Sie das auch? Wie gehen wir mit möglichen Diskrepanzen der Interessen um?
4.    Kontrakt: „Was biete ich an?“
  • Das habe ich verstanden (zusammenfassen).
  • Wertschätzung von jedem Problemsystemmitglied: jeder hat ein gutes Motiv!
  • Kooperationsbasis finden über:
  • a) Passung/Abgrenzung: das kann ich mit meinen Mitteln/können wir hier in der Institution leisten, das - zumindest in dieser Form - nicht, aber:
  • b) Angebot: das kann ich Ihnen anbieten:
  • verstehen, was das Problem bedeutet,
  • mit Ihnen gemeinsam nach Lösungen suchen,
  • Sie dabei fachlich und persönlich unterstützen,
  • Gesprächsmoderation bieten, und:
  • dazu brauche ich Ihre Ideen und Ihre Hilfe!
  • Ankündigen von verschiedenen Stadien, auch von möglichen Turbulenzen, Wertschätzung für Nichtänderung – z.B. bis zum nächsten Mal.
  • Äußerer Rahmen (vorläufige Sitzungsanzahl, Ort, Geld usw.)
5.    (Zwischen-)Bilanz: „Wo stehen wir jetzt?“
  • War es bisher ein guter Weg? Sind Sie/bist du zufrieden?
  • Bin ich zufrieden?
  • Neue Ideen, Wünsche, modifizierter Kontrakt

Literatur

Loth, W. (1998). Auf den Spuren hilfreicher Veränderungen. Das Entwickeln Klinischer Kontrakte. Dortmund
Schlippe, A.v. (2003). Grundlagen systemischer Beratung In: Zander, B., Knorr, M. (Hg.), Systemische Arbeit in der Erziehungsberatung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, pp. 30-54



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