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systemagazin-special: Das erste Mal
Rosmarie Welter-Enderlin: Nothing to write home about!
Jim and his parents, Ann Arbor Michigan, 1967: Mein erster „Fall“ in systemischer Familientherapie


Die Ehre, an einem innovativen Forschungsprojekt – „the Project“ - unter der Leitung meines Psychologie-Professors an der University of Michigan, Richard B. Stuart zu arbeiten, war gross.  Es war 1968. Also sagte ich zu.  Stuart versprach, dass ich im „Project“ meine begonnene Dissertation zum Thema wirksame therapeutische Interaktionen mit Klientenfamilien vorantreiben könne. Dafür brauchte ich bereitwillige Klienten, eine gute Infrastruktur mit Einwegscheibe und ein Videogerät, welches meine Interaktionen in messbaren Einheiten kodieren würde, sowie ein unterstützendes Team und – vor allem - einen Babysitter für unsere 8 Monate alte Tochter Barbara. Ihr Vater Rudolf war genau so engagiert wie ich mit seinen Projekten. Wir beide wollten lernen, lernen … und unser spätes Uni-Studium (wir waren knapp über 30) bis zur Neige ausleben.
Es wurde eine anregende, wunderbare Zeit im Family and School Consultation Project, und ich habe kaum je so viel gelernt wie durch Versuch und Irrtum in den drei Jahren meiner Mitarbeit. Unser Ansatz zur Problemlösung für Jugendliche mit Drogenproblemen war behavioristisch, mit starken Anleihen bei der damals jungen Systemtheorie. Gerald Patterson war zuständig für Verhaltens- und Familientherapie Jay Haley kam aus Philadelphia und supervidierte Familien mit einem oder einer drogenabhängigen Jugendlichen. Für die beiden hatten wir einen grossen Brocken Geld vom NIMH, dem National Institute of Mental Health bekommen. Der Drogenabusus bei Kindern und Jugendlichen war damals neu und ein heisses politisches Thema.
Wir jungen Therapeutinnen und Therapeuten schwankten zwischen Eltern- und Schulbeschuldigung. Manchmal belasteten wir die Eltern, vor allem die Mütter, und im Handumdrehen wieder die Lehrerinnen und Lehrer der Junior High School, in der wir ihren Unterricht von weissen und schwarzen Kindern scharf beobachteten, mit Papier und Bleistift deren Interaktionen mit dem Lehrpersonal kodierten und diesem „random reinforcement“ beibrachten. Das bedeutete schlicht, dass die Kinder Anerkennung nicht „verdienen“ mussten, sondern meistens und unvorhersehbar bekamen. Gregory Bateson, unser grosses Vorbild, war damals in Hawaii und lehrte uns, dass Delphine mit unverdientem Fisch, wie er „random reinforcement“ nannte, weit besser lernten als mit vorhersehbarer Belohnung. Ich glaube übrigens noch heute an diese Theorie und vertrete sie in Therapien und beim Unterrichten.
 Dann kam Jay Haley aus Philadelphia zu uns.“Systemisch“ würde man Haleys Ansatz vielleicht heute nennen. Aber Haley liess sich niemals in eine Schablone pressen! Ich fand es wunderbar, wie er immer den roten Faden im Netz von Kind, Eltern und Geschwister, Schule und Gemeinde fand – und auch ärgerlich, wenn mir das nicht so schnell gelang wie ihm. In seiner trockenen Art lehrte Haley uns, dass Wissenschaft ohne Kunst und Kunst ohne Wissenschaft wenig taugen. Er war Kommunikationsforscher und weder Psychiater noch Psychologe oder Soziologe, dafür hell wach und unbekümmert gegenüber „heiligen“ therapeutischen Theorien.

Jim und seine Eltern,
und wie ich meinen ersten Fall im Forschungsprojekt in den Sand gesetzt habe

Es ist bald 40 Jahre her, seit der kurz gewachsene, dünne Jim, ein Einzelkind, mit seinem gross gewachsenen Vater in Anzug und Krawatte und seiner kleinen rundlichen und immer verschwitzten Mutter ins „Project“ kam.
Jim war in der Schule bekannt als einer, der nur erschien, wenn er gut im Strumpf war. Sonst sass er daheim herum und „donnerte sich mit Hasch zu“, wie er erzählte, weil er nüchtern dem Leben und der Schule nichts abgewinnen konnte. Hasch war eine Droge, die damals leicht erhältlich war in der Schule und auch auf der Gasse.
Das Anliegen von Schule und Eltern war, dass Jim sich wie ein normaler 16-jähriger benehmen, regelmässig zur Schule gehen und keine Drogen konsumieren sollte. Geld für Drogen bekam er offenbar von Mutter und Grossmutter, die sich sorgten, dass er sonst bei seinem Bedürfnis nach Drogen Geld stehlen und kriminell werden würde.
Die Theorien, die mich damals leiteten und an die Stelle von Fallsupervision traten (Haley war mehrheitlich in Philadelphia), waren ziemlich schlicht. Ein Kind mit was immer für Symptomen versuche sich zu opfern für seine entzweiten Eltern, war eine dieser Theorien, also sollte der Fokus auf Versöhnlichkeit der Eltern oder deren gute Trennung in einer Paartherapie sein. Eine andere, mit der ersten Variante verbundene Theorie war, dass Eltern so sehr mit sich und ihren eigenen Themen befasst waren, dass sie verpassten, dem Kind adäquate Regeln und Grenzen zu vermitteln. Im Moment scheint diese Theorie der zu wenig präsenten Eltern in Europa vogue zu sein – siehe dazu die Theorien der Autoren Arist von Schlippe und seines israelischen Kollege Haim Omer.

Was mir im nachhinein auffällt war, dass immer andere Verursacher für Jims Verhalten als er selber gefunden wurden, auch von uns Therapeuten.  Als Haupt-Sündenböcke sahen wir seine – nicht berufstätige - Mutter sowie seine ältere Hauptlehrerin. Das Thema Sexismus in der systemischen Therapie wurde erst Ende der 80er Jahren von uns Kolleginnen formuliert.
Haley schrieb 1981 auf  S. 114 in „Reflections on Therapy“ zu Situationen wie mit Jim:
„Instead of the therapist reinforcing the ways a child responds to him, he is requiring the parents, usually the mother, to follwow a reinforcement schedule with the child“.
Ich sah also Jims Mutter als Hauptverantwortliche für sein Versagen –irgend jemand musste ja schuld sein! Natürlich spürte ich Mutters Zorn auf mich, Vaters Einverständnis mit meiner kritischen Haltung und Jims leises Frohlocken schon früh in unseren Sitzungen. Aber weil mir eine Theorie fehlte, um mein eigenes Verhalten in Frage zu stellen, tat ich mehr desselben, mit Beschuldigungen von Jims Mutter. Fallverstehen in der Begegnung, wie wir es seither in Meilen entwickeln und untersuchen, war mir fremd.
 Als ich unsere vierte Sitzung mit zwei Kollegen zusammen auf Video betrachtete, wurde mir heiss und kalt. Während ich auf dem Videoband hinter die Einwegscheibe zur Besprechung mit dem Team ging, flüsterte Jims Mutter ihrem Mann zu „Isn`t she getting fat! Must be the birth of her baby“. Verschworenes Lachen ihres Mannes und des gemeinsamen Sohnes war die Antwort. Als die Familie die vereinbarte nächste Sitzung absagte, war ich unglücklich, aber nicht erstaunt.
Zur Zeit fordert die Chefredaktorin Evan Imber-Black von „Family Process“, der internationalen Zeitschrift für systemische Praxis und Theorie, dazu auf, tradierte Lieblingstheorien zu Paaren und Familien neu zu bewerten und wenn nötig zu revidieren. Mit Scham schaue ich auf die Erfahrung mit Jim und seiner Familie zurück. Nothing to write home about!



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