Tom Levold: Ein doppelt zeitloses Erlebnis
1979 arbeitete ich als Wohngruppenleiter in Haus Sommerberg in Rösrath bei Köln, einem therapeutischen Heim für neurotisch-dissoziale Jugendliche, wo wir eine Wohngruppe für Jungen aufbauten, deren Familien familientherapeutisch versorgt wurden. Hier entstand die Idee, die APF zu gründen, die wir 1980 in die Praxis umsetzten. Als ich von meinen Kolleginnen und Kollegen eingeladen wurde, mich mit Familientherapie zu beschäftigen, hatte ich nicht nur keine Ahnung, dass das einmal ein Feld werden könnte, auf dem ich etwas zu bestellen hätte. Ich hatte sogar stärkste Bedenken, ob ich jemals (egal, ob als Therapeut oder als Klient) überhaupt einer Psychotherapie gewachsen sein könnte. Da wir damals festlegten, dass die APF-Weiterbildung auch eine eigene Psychoanalyse als Selbsterfahrung beinhalten sollte, sah ich mich aber schließlich trotz aller Ängste doch gezwungen, einen Psychoanalyse-Platz für mich zu organisieren (davon morgen mehr). Im Sommer 1980 begann ich, als sowohl begeistertes wie verunsichertes Mitglied in verschiedenen familientherapeutischen Teams Familien zu sehen, immer schön im Mailänder Setting: zu viert mit Einwegscheibe - und anfangs eben eher dahinter. Vom 29.9. bis zum 3.10.1980 fand in Erlangen, dem damaligen Hauptquartier der DAF (unter der Ägide des DAF-Vorsitzenden Karl Gerlicher, Leiter der Erlanger Erziehungsberatungsstelle, und von Jochen Harnatt, unermüdlicher Organisator und Karls rechte Hand) , die zweite Jahrestagung der DAF statt, der ich gerade beigetreten war. Für mich absolutes Neuland und eine aufregende Gelegenheit, eine ganze Reihe von Personen kennenzulernen, die ich bis dahin nur aus der Lektüre des Kontext und der Familiendynamik kannte. Und wie es damals so ging, lernte man in atemraubender Geschwindigkeit schnell alle möglichen Leute aus nächster Nähe kennen. Inhaltliches habe ich nicht mehr viel in Erinnerung (dass Horst Eberhard Richter den Haupt-Vortrag hielt, konnte ich jetzt in einer alten Kontext-Ausgabe nachlesen). Als Neuling entschied ich mich, eine methodenorientierte Gruppe zu besuchen. Walter Schwertl, Österreicher aus Frankfurt bzw. Frankfurter aus Österreich, bot einen Workshop zu Methoden der Familienselbsterfahrung an. Ich erinnere eine ziemlich große Gruppe von etwa 25 bis 30 Leuten. Zuerst gab es eine Skulptur-Arbeit zu besichtigen, in der meiner Erinnerung nach auch Stühle und Tische vorkamen. Dann kam das Thema Genogramm-Arbeit an die Reihe. Da ich schon vorher für mich selbst ein überaus gründliches und präzises Genogramm meiner Familie angefertigt hatte, das väterlicherseits fünf Generationen zurückreichte und ziemlich viele Daten enthielt, erklärte ich mich - den bevorstehenden Beginn der Analyse als Sicherheit im Hinterkopf - schnell und mit einem gewissen Stolz bereit, meine eigene Familie vorzustellen. Ich legte also los, alle Daten im Kopf, bereit, sie chronologisch und vollständig abzuspulen - sozusagen als Fallvorstellung. Walter Schwertl durchkreuzte aber recht schnell meine ziemlich verkopften Erwartungen, indem er die Teilnehmer einlud, sich zum Stil meiner Präsentation zu äußern. Die Kommentare kamen schnell: da käme ja überhaupt nichts Emotionales rüber. Wie könne man so cool und intellektuell darüber sprechen, dass man die ersten eineinhalb Jahre im Säuglingsheim verbracht habe? Volltreffer. Der erste von mehreren. Es folgte noch eine Reihe von Rückmeldungen, die mich zwar verstörten, aber nicht kränkten oder beschämten, obwohl ich doch plötzlich mit einer neuen Sicht auf mich selbst und meine Familie konfrontiert war, die alles, was ich mir bis dahin so zurecht gelegt hatte, über den Haufen warf. Mir gingen alle Augen und Sinne auf, ein Heureka-Gefühl überflutete mich, das zu versprechen schien, dass mein Erleben meiner selbst und meiner Welt noch ganz andere Dimensionen bergen könne. Das dies in dieser Form möglich war, hatte ich Walter Schwertl zu verdanken. Er, der als Gruppenleiter keinen Hehl aus seiner eigenen Herkunftsfamilie machte und sich als naturverbundener Bergsteiger outete, sorgte auf seine irgendwie rustikale und gleichzeitig unglaublich einfühlsame Weise dafür, dass eine Intellektualisierung der Diskussion unterblieb, die mich nur in eine Konkurrenzhaltung getrieben hätte. Stattdessen führte er mich - wie ein guter Bergführer - durch ein doppelt zeitloses Erlebnis: ich nahm den ganzen emotionalen Moment in mir auf, ohne an die Zeit oder die Gruppe als Publikum zu denken, und behielt diese Erfahrung bis heute durch die vielen Erfahrungen hindurch in mir lebendig. Sie war der Ausgangspunkt für mich, die Auseinandersetzung mit meinen eigenen Gefühlen in Angriff zu nehmen und nicht nur die Sicherheit im intellektuellen Diskurs zu suchen. Ein zugegebenermaßen längerer Prozess, den Walter mir abzukürzen half. Wir hatten in der Folge einiges miteinander zu tun, teils in der DAF, teils privat, später in der Gründungsphase der Systemischen Gesellschaft. Auch wenn unsere Wege sich aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr so oft kreuzten, was wohl auch mit beiderseitigen Enttäuschungen verbunden war, denke ich immer wieder gerne an dieses Schlüsselerlebnis zurück. Dir, lieber Walter, danke ich dafür!
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