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systemagazin-special: "Besondere Begegnungen"

Kurt Ludewig: Begegnung mit einem Guru … und die Folgen


Die Einladung von Tom Levold, mich auch dieses Jahr am Adventskalender des systemagazin zu beteiligen, lautete, über eine wichtige Begegnung mit einem Menschen zu berichten, der einen im Beruflichen beeindruckt, beeinflusst oder berührt hat, mit jemandem, den man nicht vergessen möchte. Solche Begegnungen habe ich in meiner professionellen Trajektorie glücklicherweise mehrmals erleben können. Es würde mir jedoch schwer fallen, eine unter ihnen auszuwählen, zumal viele von ihnen eine prägende Bedeutung für meine professionelle Entwicklung gehabt haben.
Deshalb erscheint es mir in diesem Kontext passender, von einer Begegnung zu berichten, die den Verlauf meines Lebens insgesamt nachhaltig beeinflusst hat.
Es geschah im September 1965, als ich mich auf der Überfahrt von Nordamerika nach Europa befand. Nachdem ich zwei Jahre im Westen der USA verbracht hatte, war ich „gezwungen“ nach Europa zu „fliehen“, denn der amerikanische Selective Service, die Institution, die damals den Militärdienst verwaltete, hatte sich für mich interessiert. Die USA waren dabei, ihr Engagement in Vietnam von einigen Tausend Beratern auf eine halbe Million Soldaten zu erweitern. Ich besaß zu dem Zeitpunkt eine sogenannte Green Card und war deshalb verpflichtet, Militärdienst zu leisten. Da ich weder den Sinn des amerikanischen Engagements in Vietnam billigte noch überhaupt gewillt war, in irgendeiner Armee zu dienen, musste ich zusehen, dass ich schnellstens das Land verließ.
Mit meinen Ersparnissen kaufte ich mir eine Schiffsfahrkarte von New York nach Southampton in Südengland. Von dort aus wollte ich nach Deutschland weiterreisen, um in einem Goethe-Institut in Oberbayern Deutsch zu lernen. Nachdem ich die USA von Los Angeles nach New York mit dem Auto überquert hatte, stellte ich am Kai zu meinem Erstaunen fest, dass im italienischen Passagierschiff keine üblichen Passagiere, das heißt, keine Rentner waren, sondern einige hundert junge amerikanische Collegestudenten, die ein Semester in Europa verbringen wollten. Wie in einem solchen Kontext kaum anders zu erwarten, verwandelte sich die Überfahrt in eine unaufhörliche Party. Es spielte Tag und Nacht „Satisfaction“ man tänzelte, besser gesagt: hüpfte und schrie dazu auf dem ganzen Schiff (Ohne ein großer Freund von Rockmusik zu sein, werde ich heute noch jedes Mal, wenn ich zufällig diese Musik höre, von einer Welle der Nostalgie erfasst).
Ich hatte wenig Geld und musste mich mit einer jener Kabinen im tiefsten Fond des Schiffes begnügen, in dem fünf andere schliefen oder auch nicht. Unter ihnen war ein junger Kaufmann aus der Umgebung von Stuttgart, den sein Vater nach den USA geschickt hatte, um seine Erfahrungen zu erweitern und der todunglücklich war, mit seinem neuen, extra für diese Seereise gekauften weißen Leinenanzug im falschen Schiff zu sein. Das war meine erste Begegnung mit einem „richtigen“ Deutschen aus der Neuzeit. Der Mensch aber, auf denen sich die Begegnung bezieht, von der ich hier berichte, war ein Amerikaner, der etwas älter als der Durchschnitt der sonstigen Passagiere war. Er muss um die 30 Jahre alt gewesen sein. Seine Koje lag direkt neben meiner, so dass wir Gelegenheit hatten, miteinander zu plaudern.
Es sind seitdem mehr als 40 Jahre vergangen und ich bin nicht in der Lage, mich trotz aller Anstrengung an seinen Namen zu erinnern. Aus Gründen, die im folgenden erkenntlich werden, nenne ich ihn hier “Angel” (immerhin das passende Gegenstück zu Devil). Er war ein besonderer, eigentlich ein außergewöhnlicher Mensch. Vom Aspekt her, groß und hager mit einem länglichen Gesicht und schwarzem Spitzbart erinnerte er mich an Abbildungen von Jesus Christus, vielleicht auch ein Bisschen an meine Vorstellungen von Rasputin. Er war alles andere als typisch amerikanisch, und sicher ganz und gar anders als die meisten der auf diesem Schiff fahrenden Collegestudenten aus der amerikanischen Mittel- und Oberschicht. Der einzige unter ihnen, der ihm in gewisser Weise ähnlich war, war Mario Savio, ein ebenfalls außerordentlicher Mensch. Er war derjenige, der während der Unruhen an den Universitäten um San Francisco die rebellierende Studentenschaft geführt hatte. Wie er mir sagte, hatte er die USA verlassen müssen, weil keine Universität bereit gewesen wäre, ihn aufzunehmen. Aber zurück zu Angel. Schon kurz nach Beginn der Fahrt, beim ersten Sonnenuntergang brachte er es fertig, sich am Bug des Schiffes zu stellen und den Sonnenuntergang zu zelebrieren. Im Nu hatten sich einige hundert junge Leute um ihn versammelt, um dieser Zeremonie aktiv beizuwohnen. Von da an war er der bekannteste unter den Passagieren. Zu den Mahlzeiten zelebrierte er das Essen und auch hier machten viele um ihn herum beseelt mit.
Da ich als Schüler eines britischen Internats in Chile von früh auf gelernt hatte, gegenüber Wichtigtuern und anderen Autoritäten skeptisch zu sein, sah ich mir solche Versammlungen aus gebührender Distanz an, ohne mich beteiligen zu wollen. Ich war damals 22 Jahre alt und hatte, so wie ich damals meinte, eine gewisse Reife bereits erworben, zumal ich schon zwei Jahre im Ausland auf eigenen Beinen gelebt hatte. Dennoch faszinierte mich dieser Mensch. Mich interessierte vor allem, zu verstehen, wie es einem Menschen gelingen konnte, in so kurzer Zeit und mit so geringer Anstrengung einen derartigen Anhang um sich zu scharen. War alles, was dazu notwendig war, tiefsinnige Dinge oder zumindest so erscheinende mit einem tiefen Blick aus dunklen Augen und einer tiefen Stimme zu verkünden? Oder gab es wirklich Menschen, die eine besondere Gabe hatten, andere dort zu treffen, wo sie beeindruckbar sind? Wussten diese Menschen Dinge, die andere nur ahnten, aber wissen wollten? Es musste doch etwas an ihnen geben, was außergewöhnlich war und, darüber hinaus, eindrucksvoll und überzeugend. Ich hätte schon damals gern die Möglichkeit gehabt, dies genauer zu untersuchen, war aber doch noch zu jung und unerfahren.
Und dann, eines Nachmittags, als alle anderen in ihren Kojen Siesta schliefen, und nur Angel und ich wach waren, sollte es mich auch treffen. Wir unterhielten uns von Koje zu Koje über dies und das, bis er mich dann fragte, ob ich denn die Leidenschaft kenne. Diese Frage hat mich ganz und gar auf dem falschen Fuß erwischt und zum Stottern gebracht. Bemüht, trotz meines jungen Alters, lebenserfahren zu wirken, habe ich vergeblich versucht, mich um diese Frage herum zu retten. Die Schlingen aber, die Angel angelegte, schnürten mich immer enger, bis ich gestehen musste, dass ich es nicht genau wüsste, ob ich je leidenschaftlich geliebt hätte. Er schaute mich mit seinem tiefschürfenden Blick an und schien mich bis ins Innerste meiner Seele zu durchschauen. Unbeeindruckt von meiner desolaten Lage sagte er mir dann etwas, was den weiteren Verlauf meines Lebens wesentlich beeinflussen sollte. Es sei mir anzusehen, dass ich einer derer sei, die dem Glück zwar begegnen, daran aber vorbeigehen, ohne es überhaupt zu merken. Und das traf mitten in die Stelle, die bedeutsam ist.
Nach dieser Eröffnung war die Unterredung für Angel beendet; er drehte sich um und schlief ein. Ich blieb seltsam betroffen, ohne klar zu verstehen, was mit mir geschah. Obwohl wir noch einige Tage im Schiff zusammen verbracht haben, kam es nicht wieder zu einem Zwiegespräch zwischen uns. Er war mit seiner Mission voll beschäftigt - schließlich gab es haufenweise junge Menschen am Bord, die verstört werden wollten; ich hatte angefangen, nach dem Glück zu fahnden. Zuletzt habe ich ihn gesehen, als er am Hafen mit zwei Immigration Officers darüber verhandelte, ob er nach England einreisen durfte oder nicht. Ich weiß nicht einmal genau, ob es ihm gelungen ist, ans Land zu gehen. Ich weiß aber wohl, dass diese so arg treffende und verunsichernde Prophezeiung von da an ein ganzes Stück meines Lebens bestimmen sollte.
Ich wurde derart aufmerksam auf all das, was mein Glück bedeuten könnte, dass ich in gewisser Hinsicht eine Art „Glückszwang“ entwickelte. Und das hat einige Jahre angedauert. Im Nachhinein gesehen, kann ich nicht einmal mit annähernd absoluter Sicherheit sagen, ob nicht viele der Entscheidungen, die ich von da an getroffen habe, von der Furcht geleitet waren, mein Glück ja nicht zu verpassen. Hätte ich unter anderen Umständen auch so früh geheiratet? Wäre ich in unter anderen Umständen auch in Hamburg geblieben, um dort Psychologie zu studieren, statt nach Frankreich oder Italien weiter zu wandern, wie ich es ursprünglich vorhatte? Hätte ich nicht die sich anbahnende systemische Therapie gleich in der Wiege mit aufgegriffen, anstatt mich eines bereits etablierten Verfahrens anzuschließen, um es leichter zu haben? Hätte ich das Institut in Hamburg nicht mitgegründet, obwohl ich damals kaum Geld hatte und lieber Einträglicheres hätte tun sollen? Hätte ich nicht Jahre meines Lebens am Schreibtisch verbracht, statt Wohltuenderes zu tun und systemische Experimente nachvollzogen, statt eine Habilitationsschrift frühzeitig zu verfassen, die mir einen bequemen Posten an der Uni gesichert hätte usw., usf.
Wäre ich Angel nicht begegnet und hätte ihm nicht zugehört, hätte ich mein Leben alles in allem „vernünftiger“ geführt, statt dem Glück nachzurennen, um es ja nicht zu verpassen? Schwer zu sagen! Eine ziemlich ambivalente Angelegenheit! Gewiss, ich verdanke Angels Spruch eine Menge an spontanen, schnellen Entscheidungen, die zu sehenswerten Ergebnissen führten, zugleich aber auch einiges an Beschwernissen. Wäre es besser gewesen, in unbefangener Naivität zu bleiben, ohne die Stimme eines Gurus im Nacken zu haben? Ich habe sie aber gehört, und es blieb einem nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. Man ist ja noch so nahe zu unseren prähistorischen Vorfahren und deren archaischen Affekten!



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